Cold Fury: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
kämpfen sehen, die viel jünger waren als er, zehn Jahre oder mehr, und denen er ordentliche Lektionen verpasst und Nase und Kinn gründlich poliert hatte. Das Stahlrohr war ein Zeichen dafür, dass er zu allem bereit war. Wenn jemand in Willys Nähe auf mich losging, würde er auf das zurückgreifen, was ihm die South Side von Chicago beigebracht hatte. Dass er fest entschlossen war, mich gegen jeden Schläger zu verteidigen, vermittelte mir ein Gefühl von Wärme und machte mich auch ein wenig ruhiger.
Der Lincoln parkte in dem kleinen Gässchen hinter dem Studio.
Ich setzte Harry auf den Rücksitz und schnallte ihn an.
Dann drehte ich den Schlüssel, der Motor schnurrte, und sofort war die Unruhe wieder da.
Die Bäckerei war für mich immer lebendig gewesen, ein Ort voller leckerer Dinge und vertrauter, warmer Gerüche, dem Singsang italienischer Gespräche und der Tatsache, dass meine Familie dort einfach hingehörte. Wir gehörten zusammen, die Rispolis und die Bäckerei. Wenn ich an meine Großeltern dachte, dann dachte ich an das puderfeine, weiße Mehl und den süßen gelben Teig in der Backstube, an die Registrierkasse aus Messing, die Neonreklame im Fenster, die blitzblanke Theke mit Kuchen. Bei dem volltönenden Klappern eines Holzlöffels, mit dem Ausbackteig in einer Schüssel umgerührt wurde, musste ich an Onkel Buddy denken. Vor meinem geistigen Auge erschien das Bild meines Vaters, der eine Ouvertüre pfiff, während er mit der Konzentration eines Bildhauers Teig ausrollte und Kekse formte. Die Türglocke läutete, ich sah, wie meine Mutter mit Lou an der Hand plaudernd und lachend eintrat.
Jetzt aber musste ich daran denken, dass die Backstube abgeschlossen und verlassen sein würde.
Still, dunkel und staubig.
Leere kann beängstigender sein als alles andere auf der Welt.
Einem spontanen Gedanken folgend bog ich nach rechts ab und fuhr über die verlassenen Straßen in die Innenstadt. Die Sonne ging über dem Michigansee auf, ihr rosa Schimmer spiegelte sich auf den Schluchten aus Glas und Stahl, weiße Fluchten aus Straßenlaternen tauchten vor mir auf, eine nach der anderen. Es war noch nicht so lange her, dass ich meinen Vater gelegentlich frühmorgens begleitet hatte, wenn er Doughnuts und Croissants auslieferte. Selbst im Sommer war es um sechs Uhr früh draußen kühl, wenn wir mit dem Lieferwagen, die Fenster weit heruntergekurbelt, durch die Stadt fuhren. Der Bereich der Innenstadt, der wegen der Hochbahntrassen, die ihn umgeben, »The Loop« genannt wird, ist unter der Woche der Teil von Chicago, in dem am meisten los ist; hier sind buchstäblich Millionen von Menschen unterwegs, die zur Arbeit gehen oder gerade auf dem Weg nach Hause sind. Die Pendlerzüge rumpeln über ein langes, erhöhtes Oval, Klappbrücken öffnen und schließen sich, Flugzeuge dröhnen über den Himmel und hinterlassen weiße, wolkige Linien, und Autohupen, Baulärm, laute Rufe und Polizeisirenen sorgen als Orchester für einen Metropolen-Soundtrack, der erst spät in der Nacht wieder verstummt.
Früh am Morgen ist alles so ganz anders, dass man sich beinahe auf einem anderen Planeten wähnt.
Ein paar Taxifahrer chauffierten gemächlich über die verlassenen Boulevards, mit kleinen, müden Augen, weil sie entweder schon eine lange Nachtschicht hinter sich hatten oder aber gerade erst aufgestanden waren. Straßenreiniger bliesen Zigarettenkippen von den erhöhten Bürgersteigen, Mitarbeiter der Chicago Transit Authority begaben sich in ihren adretten Uniformen zu den unter- und oberirdischen Bahnhöfen, und einige wenige Ehrgeizlinge, die vor den Kollegen im Büro sein wollten, um richtig was zu schaffen, schritten yogaentspannt und im schicken Business-Dress voller Energie durch die leeren Straßen: So sah die Innenstadt aus, als ich mit dem Lincoln hindurchschlich und mich davor gruselte, mich der grabesstillen Atmosphäre in der Backstube zu stellen. Wie gern hätte ich noch einen Augenblick Sicherheit und Vertrautheit gespürt, bevor ich den großen Sprung wagte.
Ein paar Straßen weiter bog ich scharf nach links in den Jackson Boulevard.
Hier befand sich das alte Diner, dessen Nostalgie-Lampen, das Route-66-Schild und der geschwungene Tresen durch das Panoramafenster gut zu sehen waren.
Das Schild mit der Aufschrift »Lou Mitchell’s« leuchtet in rosa-orangefarbenem Neon und verkündet in aller Bescheidenheit, dass hier der beste Kaffee der Welt ausgeschenkt wird.
Ich parkte auf dem Jackson
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