Collins, Suzanne
hinein.«
Ich kenne die Stimme, kann sie jedoch nicht gleich
zuordnen. Nicht Saum, nicht 13, ganz sicher nicht Kapitol. Ich wende den Kopf
und stehe Paylor gegenüber, der Rebellenführerin aus Distrikt 8. Sie sieht noch
mitgenommener aus als damals im Lazarett, aber wer nicht?
»Auf meine Verantwortung«, sagt Paylor. »Sie hat ein Recht
auf alles, was sich hinter dieser Tür befindet.« Das sind ihre Soldaten, nicht
die von Coin. Gehorsam senken sie die Waffen und lassen mich durch.
Am Ende eines kurzen Gangs drücke ich Glastüren auf und
trete ein. Der Geruch ist jetzt so stark, dass er weniger intensiv wirkt, als
könnte meine Nase nicht mehr aufnehmen. Die feuchte, milde Luft tut gut auf
meiner heißen Haut. Und die Rosen sind fantastisch. Reihe um Reihe üppiger
Blüten, in opulentem Rosa, Sonnenuntergangsorange und sogar Hellblau. Ich gehe
durch die Beete mit den sorgfältig beschnittenen Pflanzen und schaue, fasse
aber nichts an, denn ich habe schmerzlich erfahren müssen, wie tödlich diese
Schönheiten sein können. Auf einmal stehe ich vor ihr. Wie eine Krone prangt
sie auf einem schlanken Stock. Eine prachtvolle weiße Rose, die sich gerade zu
öffnen beginnt. Damit meine Haut nicht mit ihr in Berührung kommt, ziehe ich
den linken Ärmel über die Hand, nehme eine Gartenschere und setze sie am Stiel
an, als er plötzlich spricht.
»Ein schönes Exemplar.«
Ich zucke zusammen, die Schere schnappt zu und durchtrennt
den Stiel.
»Farben sind schön, natürlich, aber nichts ist so perfekt
wie Weiß.«
Ich kann ihn immer noch nicht sehen, doch seine Stimme
scheint von einem nahen Beet mit roten Rosen zu kommen. Während ich den Stiel
mit der Knospe vorsichtig durch den Stoff meines Ärmels festhalte, gehe ich um
die Ecke. Da sitzt er auf einem Stuhl nahe bei der Wand. Er ist so gepflegt und
gut gekleidet wie immer, trägt aber Hand- und Fußfesseln und Aufspürer. Im
hellen Licht ist seine Haut grünlich bleich. Er hält ein Taschentuch in der
Hand, das mit frischem Blut befleckt ist. Selbst in diesem heruntergekommenen
Zustand leuchten seine Schlangenaugen hell und kalt. »Ich hatte gehofft, du
würdest den Weg in mein Quartier finden.«
Sein Quartier. Ich bin in sein Zuhause eingedrungen, so
wie er sich letztes Jahr in meins eingeschlichen und mir mit blutigem
Rosenatem Drohungen zugezischt hat. Dieses Treibhaus gehört zu seinen Räumen,
vermutlich ist es sein Lieblingsort; in besseren Zeiten hat er die Pflanzen
vielleicht sogar selbst gepflegt. Aber nun ist es Teil seines Gefängnisses.
Deshalb haben die Wachen mir den Weg versperrt. Und deshalb hat Paylor mich
eingelassen.
Ich hatte vermutet, er werde im tiefsten Kerker verwahrt,
den das Kapitol zu bieten hat. Doch Coin hat ihm den Luxus gelassen.
Vermutlich, um einen Präzedenzfall zu schaffen. Sollte dereinst sie selbst
einmal in Ungnade fallen, wäre es ganz selbstverständlich, dass Präsidenten -
selbst die verabscheuungswürdigsten - eine besondere Behandlung verdient haben.
Denn wer weiß, vielleicht schwindet ihre eigene Macht ja auch einmal.
»Es gibt so vieles, was wir bereden sollten, aber mein
Gefühl sagt mir, dass das nur ein kurzer Besuch sein wird. Also das Wichtigste
zuerst.« Er beginnt zu husten, und als er das Taschentuch vom Mund nimmt, ist
es noch röter. »Ich möchte dir sagen, wie leid mir das mit deiner Schwester
tut.«
26
Selbst in meinem abgestumpften, betäubten Zustand versetzt
mir das einen Stich. Und erinnert mich daran, dass seine Grausamkeit grenzenlos
ist. Und dass er noch auf dem Weg ins Grab versuchen wird, mich zu zerstören.
»So sinnlos, so unnötig. Zu dem Zeitpunkt wusste doch jeder,
dass das Spiel aus war. Tatsächlich wollte ich gerade eine offizielle Kapitulationserklärung
herausgeben, als sie diese Fallschirme abwarfen.« Sein Blick klebt förmlich an
mir, unverwandt, als wollte er kein Fitzelchen meiner Reaktion verpassen. Aber
was er sagt, ergibt keinen Sinn. Als sie die
Fallschirme abwarfen? »Du hast doch nicht allen Ernstes gedacht, ich hätte den
Befehl dazu gegeben, oder? Hast du etwa die offensichtliche Tatsache außer
Acht gelassen, dass ich mich, hätte ich ein flugtüchtiges Hovercraft zur
Verfügung gehabt, natürlich unverzüglich aus dem Staub gemacht hätte? Aber
davon einmal abgesehen, wozu hätte das gut sein sollen? Wir beide wissen, dass
es nicht unter meiner Würde ist, Kinder zu töten, aber ich bin kein
Verschwender. Wenn ich ein Leben nehme, dann aus ganz
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