Collins, Suzanne
Händen, als enthielten sie immer noch
etwas Wertvolles. An der Art, wie die Friedenswächter die Barrikaden wegreißen
und den Kindern einen Weg öffnen, erkenne ich, dass sie nicht wussten, was
kommen würde. Noch eine Schar weißer Uniformen rennt durch die entstandene
Öffnung. Keine Friedenswächter diesmal. Es sind Sanitäter. Sanitäter der Rebellen.
Diese Uniformen würde ich überall erkennen. Mit Verbandsets ausgestattet, verteilen
sie sich in der Kinderschar.
Zuerst erkenne ich den blonden Zopf, der über ihren Rücken
fällt. Als sie den Mantel auszieht, um ein wimmerndes Kind zuzudecken, bemerke
ich den Entenschwanz, den ihr herausgerutschtes Hemd bildet. Ich reagiere
genauso wie an dem Tag, als Effie Trinket bei der Ernte ihren Namen verlas.
Alle Kraft muss aus mir gewichen sein, denn plötzlich kauere ich am Fuß des
Fahnenmasts und weiß nicht, was in den vergangenen Sekunden geschehen ist.
Dann rappele ich mich auf und dränge mich durch die Menge, wie vorher. Versuche
ihren Namen zu rufen, den Lärm zu übertönen. Als ich fast da bin, fast an der
Betonmauer, meine ich, dass sie mich hört. Denn einen kurzen Augenblick lang
erblickt sie mich, ihre Lippen formen meinen Namen.
In diesem Moment gehen die restlichen Fallschirme hoch.
25
Wahr oder nicht wahr? Ich stehe in Flammen. Feuerbälle
sind aus den Fallschirmen durch die schneegesättigte Luft geschossen, sie haben
den Betonwall überwunden und sind über der Menge niedergegangen. Ich wollte
mich gerade abwenden, da wurde ich getroffen, eine brennende Zunge lief über
meinen Rücken und hat mich in etwas Neues verwandelt. Ein Geschöpf, so
unauslöschlich wie die Sonne.
Eine Feuermutation kennt nur eine Empfindung: Todesqual.
Nichts sehen, nichts hören, nichts spüren außer dem erbarmungslosen Brennen
von Fleisch. Unterbrochen von Phasen der Bewusstlosigkeit, aber was spielt das
für eine Rolle, wenn ich darin keine Zuflucht finde? Ich bin Cinnas Vogel,
brennend, panisch umherflatternd, auf der Flucht vor etwas, dem man nicht
entfliehen kann. Flammenfedern wachsen aus meinem Körper. Das Flügelschlagen
facht die Glut nur noch mehr an. Ich verbrenne, es nimmt kein Ende.
Endlich gerät das Flattern ins Stocken, ich verliere an
Höhe, und die Schwerkraft zieht mich in ein schäumendes Meer, das die Farbe von
Finnicks Augen hat. Ich treibe auf dem Rücken, der auch unter Wasser noch
brennt, aber die Todesqual verwandelt sich nach und nach in Schmerz. Während
ich hilflos auf den Wellen treibe, kommen sie. Die Toten.
Die ich liebte, fliegen über mir wie Vögel am Himmel. Sie
schießen hinauf, vollführen Kapriolen, rufen mich, ich solle mich zu ihnen
gesellen. Wie gern würde ich ihnen folgen, doch das Meerwasser hat meine Flügel
schwer gemacht, ich kann sie nicht heben. Die ich hasste, sind ins Wasser
gegangen, schreckliche geschuppte Wesen, die mit nadelspitzen Zähnen mein salziges
Fleisch herausreißen. Immer und immer wieder beißen sie hinein. Ziehen mich
nach unten.
Der kleine weiß-rosa Vogel taucht hinab und schlägt die
Krallen in meine Brust, versucht mich oben zu halten. »Nein,
Katniss! Nein! Du darfst nicht gehen!«
Doch die ich hasste, behalten die Oberhand, und wenn sie
sich weiter an mich klammert, wird auch sie verloren sein. »Lass los,
Prim!« Und endlich tut sie es.
Tief unten im Wasser bin ich von allen verlassen. Nur das
Geräusch meines Atems, die enorme Anstrengung, das Wasser einzuatmen und aus
der Lunge zu pressen. Ich möchte nicht mehr, möchte den Atem anhalten, aber das
Meer drängt sich gewaltsam hinein und hinaus, gegen meinen Willen. »Lasst
mich sterben. Lasst mich den anderen folgen«, bitte ich
die Macht, die mich festhält. Niemand antwortet mir.
Gefangen für Tage, Jahre, Jahrhunderte vielleicht. Tot,
ohne sterben zu dürfen. Am Leben, aber so gut wie tot. So allein, dass alles,
jeder willkommen wäre, egal wie abscheulich. Als endlich ein Besucher kommt,
ist er süß. Morfix. Es strömt durch meine Adern, lindert den Schmerz, macht
meinen Körper so leicht, dass er wieder aufsteigt und auf den Schaumkronen
bleibt.
Schaum. Ich treibe wirklich auf Schaum. Ich fühle ihn unter
den Fingerspitzen, meinen nackten Körper wiegend. Durch den starken Schmerz
dringt so etwas wie Realität. Meine Kehle wie Sandpapier. Der Geruch der
Brandwundensalbe aus der ersten Arena. Die Stimme meiner Mutter. All das macht
mir Angst, deshalb versuche ich, in die Tiefe zurückzukehren, um mir einen Reim
darauf zu
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