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Collins, Suzanne

Collins, Suzanne

Titel: Collins, Suzanne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Flammender Zorn (Die Tribute von Panem Bd 3)
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platze ich
heraus. Alles würde ich tun, um diese Erinnerungen zu verscheuchen. Schon
springe ich auf, gehe zu den Bäumen und lege eine Hand an den rauen Stamm des
Ahorns, auf dem die Vögel hocken. Das Lied vom Henkersbaum habe ich seit zehn
Jahren nicht mehr laut gesungen, denn es ist verboten, aber ich weiß noch jedes
Wort. Ich beginne langsam und zärtlich, wie mein Vater es immer gesungen hat.
     
    Kommst du, kommst du,
    Kommst du zu dem Baum,
    Wo sie hängten den Mann, der drei getötet haben soll?
    Seltsames trug sich hier zu.
    Nicht seltsamer wäre es,
    Träfen wir uns bei Nacht im Henkersbaum.
     
    Sobald die Spotttölpel merken, dass ich ihnen etwas Neues
anbiete, ändern sie ihr Lied.
     
    Kommst du, kommst du,
    Kommst du zu dem Baum,
    Wo der tote Mann zu seiner Liebsten rief: Lauf.
    Seltsames trug sich hier zu.
    Nicht seltsamer wäre es,
    Träfen wir uns bei Nacht im Henkersbaum.
     
    Jetzt habe ich die Aufmerksamkeit der Vögel. Noch eine
Strophe, dann haben sie die Melodie aufgeschnappt, denn sie ist einfach und
wird mit nur kleinen Variationen viermal wiederholt.
     
    Kommst du, kommst du,
    Kommst du zu dem Baum,
    Wohin ich dir riet zu fliehen und uns zu befreien?
    Seltsames trug sich hier zu.
    Nicht seltsamer wäre es,
    Träfen wir uns bei Nacht im Henkersbaum.
     
    Jetzt ist es ganz still in den Bäumen. Nur die Blätter
rascheln im Wind. Aber keine Vögel sind zu hören, weder Spotttölpel noch
andere. Peeta hat recht. Wenn ich singe, verstummen sie. Genau wie bei meinem
Vater.
     
    Kommst du, kommst du,
    Kommst du zu dem Baum,
    Ein Seil als Kette, Seite an Seite mit mir?
    Seltsames trug sich hier zu.
    Nicht seltsamer wäre es,
    Träfen wir uns bei Nacht im Henkersbaum.
     
    Die Vögel warten darauf, dass ich weitersinge. Doch das
Lied ist zu Ende. Das war die letzte Strophe. In der Stille erinnere ich mich
daran, wie es war an jenem Tag. Mein Vater und ich kamen aus dem Wald nach
Hause. Prim, die damals noch ein Kleinkind war, und ich saßen auf dem Boden und
sangen das Lied vom Henkersbaum. Flochten uns Ketten aus altem Seil, wie es in
dem Lied heißt, ohne den eigentlichen Sinn der Worte zu verstehen. Es war eine
einfache Melodie, leicht zu lernen, und damals konnte ich mir nach ein- bis
zweimaligem Hören fast jede Melodie merken. Plötzlich riss meine Mutter uns die
Ketten aus den Händen und schrie meinen Vater an. Ich fing an zu weinen, weil
meine Mutter sonst nie schrie, dann heulte Prim, und ich lief hinaus, um mich
zu verstecken. Weil ich nur ein einziges Versteck hatte - auf der Weide unter
einem Geißblatt -, fand mein Vater mich sofort. Er beruhigte mich und sagte,
es sei alles gut, aber dieses Lied sollten wir lieber nicht mehr singen. Meine
Mutter wollte, dass ich es einfach vergaß. Und deshalb brannte sich mir natürlich
jedes Wort unwiderruflich ins Gedächtnis ein.
    Wir sangen das Lied dann nicht mehr, mein Vater und ich,
und sprachen auch nicht mehr davon. Nach seinem Tod fiel es mir oft wieder ein.
Als ich älter wurde, verstand ich allmählich den Text. Am Anfang hört es sich
so an, als ob ein Junge seine Freundin überreden will, ihn heimlich in der
Nacht zu treffen. Aber es ist ein seltsamer Ort für ein Stelldichein, ein
Henkersbaum, an dem ein Mann für einen Mord gehängt wurde. Die Liebste des
Mörders muss etwas mit dem Mord zu tun haben, oder vielleicht soll sie einfach
nur so bestraft werden, jedenfalls ruft seine Leiche ihr zu, sie solle
weglaufen. Das mit der sprechenden Leiche ist natürlich seltsam, aber erst in
der dritten Strophe wird das Lied unheimlich. Da wird klar, dass es von dem
toten Mörder selbst gesungen wird. Er hängt immer noch im Henkersbaum. Und
obwohl er seine Liebste auffordert zu fliehen, bittet er sie, ihn zu treffen.
Am beklemmendsten ist die Stelle Wohin ich dir riet zu fliehen und
uns zu befreien. Erst denkt man, sie solle fliehen, damit sie in
Sicherheit wäre, aber dann fragt man sich, ob er vielleicht meint, sie solle zu
ihm laufen. In den Tod. In der letzten Strophe ist es dann eindeutig, dass er
genau darauf wartet. Dass seine Liebste mit einem Seil als Kette tot neben ihm
am Baum hängt.
    Früher fand ich den Mörder wirklich gruselig. Jetzt, nach
zwei Ausflügen zu den Hungerspielen, würde ich nicht mehr so schnell über ihn
urteilen. Vielleicht war seine Liebste bereits zum Tode verurteilt und er
wollte es ihr leichter machen. Vielleicht wollte er ihr sagen, dass er auf sie
wartet. Oder er fand, dass der Ort, an dem er sie

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