Collins, Suzanne
für ein Gefühl
war, unser Geschick im Umgang mit Waffen gegen die Bomber in Distrikt 8
einzusetzen, und ich verstumme. Gale sagt nur: »Das war lange überfällig.«
Als wir auf den Marktplatz kommen, naht schon der Abend.
Ich führe Cressida zu den Trümmern der Bäckerei und bitte sie, dort etwas zu
filmen. Ich bringe kein Gefühl mehr zustande, nur noch Erschöpfung. »Peeta, das
hier ist dein Zuhause. Von deiner Familie fehlt seit der Bombardierung jede
Nachricht. Distrikt 12 gibt es nicht mehr. Und du forderst einen Waffenstillstand?«
Ich schaue in das Nichts. »Hier ist niemand, der dich hören könnte.«
Als wir vor dem Metallklumpen stehen, der einmal der Galgen
war, fragt Cressida, ob einer von uns gefoltert worden sei. Anstelle einer
Antwort zieht Gale sein Hemd hoch und dreht den Rücken zur Kamera. Ich starre
auf die Narben von den Peitschenhieben und höre wieder das Zischen der
Peitsche, sehe, wie er blutüberströmt und bewusstlos an den Handgelenken
hängt.
»Ich bin fertig«, verkünde ich. »Wir treffen uns im Dorf
der Sieger. Ich will da ... was für meine Mutter holen.«
Ich muss zu unserem Haus gelaufen sein, aber ich kann mich
nicht dran erinnern. Ich sitze vor den Küchenschränken auf dem Fußboden. Packe
Tonkrüge und Glasflaschen fein säuberlich in eine Kiste. Lege Baumwollverbände
zum Schutz dazwischen. Binde Sträuße aus Trockenblumen.
Da fällt mir die Rose auf meiner Kommode wieder ein. War
sie wirklich da? Und wenn ja, ist sie immer noch da oben? Ich unterdrücke den
Drang nachzusehen. Wenn sie noch da ist, versetzt mich das nur wieder in Angst
und Schrecken. Ich beeile mich mit dem Packen.
Als die Schränke leer sind und ich mich umdrehe, steht
plötzlich Gale in der Küche. Es ist unheimlich, wie lautlos er auftauchen
kann. Er stützt sich auf den Tisch, die Finger auf der Holzmaserung weit
gespreizt. Ich stelle die Kiste zwischen uns ab. »Weißt du noch?«, fragt er.
»Hier hast du mich geküsst.«
Obwohl wir ihm nach der Auspeitschung eine hohe Dosis
Morfix verabreicht haben, ist die Erinnerung nicht aus seinem Bewusstsein
gelöscht. »Ich hätte nicht gedacht, dass du das noch weißt«, sage ich.
»Müsste schon tot sein, um das zu vergessen. Vielleicht
nicht mal dann«, sagt er. »Vielleicht bin ich wie der Mann in dem Lied vom
Henkersbaum. Der immer noch auf eine Antwort wartet.« Gale, den ich noch nie
habe weinen sehen, hat Tränen in den Augen. Bevor sie ihm über die Wangen
laufen können, beuge ich mich vor und lege meine Lippen auf seine. Wir
schmecken nach Hitze, Asche und Unglück. Ein überraschender Geschmack für
einen so zarten Kuss. Gale löst sich als Erster und lächelt mich schief an.
»Ich wusste, dass du mich küssen würdest.«
»Wie das?«, frage ich. Ich selbst habe es nämlich nicht gewusst.
»Weil ich leide«, sagt er. »Nur so bekomme ich Zuwendung
von dir.« Er hebt die Kiste hoch. »Keine Sorge, Katniss. Das geht schon
vorüber.« Bevor ich etwas sagen kann, ist er draußen.
Ich bin zu müde, um mir über seinen Vorwurf den Kopf zu
zerbrechen. Den kurzen Flug zurück nach Distrikt 13 verbringe ich zusammengerollt
auf einem Sitz. Ich versuche Plutarch auszublenden, der sich über eines seiner
Lieblingsthemen ausbreitet - Waffen, die der Menschheit nicht mehr zur Verfügung
stehen. Hoch fliegende Flugzeuge, militärische Satelliten, Zellzersetzer, Drohnen,
biologische Waffen mit begrenzter Haltbarkeit. Unschädlich gemacht durch die
Zerstörung der Atmosphäre, mangelnde Ressourcen oder moralische Zimperlichkeiten.
Man hört das Bedauern eines Obersten Spielmachers heraus, der von solchen
Spielzeugen nur träumen kann und sich jetzt mit Hovercrafts,
Boden-Boden-Raketen und läppischen Gewehren zufriedengeben muss.
Nachdem ich mein Spotttölpelkostüm abgelegt habe, gehe
ich, ohne zu essen, ins Bett. Trotzdem muss Prim mich am nächsten Morgen wach
rütteln. Ich pfeife auf meinen Tagesplan und halte nach dem Frühstück ein
Nickerchen im Wandschrank des Materialraums. Als ich wieder zu mir komme und
zwischen den Kisten von Kreide und Stiften hervorkrabbele, ist es schon Zeit
zum Abendessen. Ich bekomme eine extragroße Portion Erbsensuppe und werde
wieder zur Wohneinheit E geschickt. Dort fängt Boggs mich ab.
»In der Kommandozentrale ist eine Versammlung. Vergiss
deinen Tagesplan«, sagt er.
»Schon geschehen«, sage ich.
»Hast du ihn heute überhaupt befolgt?«, fragt er verärgert.
»Wer weiß? Ich bin geistig verwirrt.« Ich
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