Collins, Suzanne
Gesichtsausdruck, während
er durch die Ruinen wandert, dass es sich anfühlt, als wäre das Schreckliche
gerade erst passiert?
Cressida erklärt dem Kamerateam, sie sollen vor meinem alten
Haus mit mir beginnen. Ich frage, was ich machen soll. »Was du willst«, sagt
sie. Als ich in unserer Küche stehe, will ich überhaupt nichts. Ich schaue in
den Himmel - das einzige Dach -, weil zu viele Erinnerungen auf mich
einstürzen. Nach einer Weile sagt Cressida: »Das reicht schon, Katniss. Los, gehen
wir weiter.«
Gale kommt bei seinem alten Zuhause nicht so leicht davon.
Cressida filmt ihn ein paar Minuten lang stumm, doch gerade als er das einzige
Überbleibsel seines früheren Lebens aus der Asche zieht - ein verbogenes
Schüreisen -, fragt sie ihn nach seiner Familie aus, nach seiner Arbeit, dem
Leben im Saum. Er muss die Nacht der Brandbomben noch einmal durchleben und
alles nachstellen, erst vor seinem Haus, dann geht es über die Weide und durch
den Wald bis zum See. Ich folge der Filmcrew und den Bodyguards unwillig und
finde insgeheim, dass sie mit ihrer Anwesenheit meinen geliebten Wald
entweihen. Das ist ein intimer Ort, eine Zufluchtsstätte, wenn auch bereits
verdorben vom Kapitol. Auch nachdem wir die verkohlten menschlichen Überreste
am Zaun hinter uns gelassen haben, stolpern wir noch über verwesende Leichen.
Aber müssen wir das für alle Welt filmen?
Als wir am See ankommen, scheint Gale seine Sprache verloren
zu haben. Alle sind schweißüberströmt, vor allem Castor und Pollux in ihren
Insektenpanzern, und Cressida bittet um eine Pause. Ich schöpfe mit den Händen
Wasser aus dem See, am liebsten würde ich hineinspringen und allein wieder
auftauchen, nackt und unbeobachtet. Eine Weile gehe ich am See entlang. Als
ich wieder zu dem kleinen Haus aus Beton gelange, bleibe ich im Eingang stehen
und sehe, wie Gale das verbogene Schüreisen, das er gerettet hat, an die Wand
neben dem Kamin lehnt. Ganz kurz habe ich das Bild eines einsamen Fremden vor
Augen, irgendwo weit in der Zukunft, der sich in der Wildnis verirrt hat und zu
diesem kleinen Zufluchtsort kommt, zu dem Stapel Brennholz, dem Kamin und dem
Schüreisen. Und sich fragt, wie das alles dorthin gekommen ist. Gale dreht sich
um, unsere Blicke treffen sich, und ich weiß, dass er an unsere letzte Begegnung
hier denkt. Als wir darüber gestritten haben, ob wir fliehen sollten oder
nicht. Wenn wir geflohen wären, würde es Distrikt 12 dann noch geben? Ich
glaube, ja. Aber dann würde das Kapitol immer noch über Panem herrschen.
Es werden Käsebrote herumgereicht und wir essen sie im
Schatten der Bäume. Ich habe mich absichtlich an den Rand der Gruppe gesetzt,
neben Pollux, damit ich nicht reden muss. Wir reden alle nicht viel. In der
relativen Stille kehren die Vögel zurück. Ich stoße Pollux an und zeige auf einen
kleinen schwarzen Vogel mit einer Haube. Er hüpft auf einen jungen Zweig,
breitet kurz die Flügel aus und zeigt seine weißen Flecken. Pollux deutet auf
meine Brosche und zieht fragend die Augenbrauen hoch. Ich nicke: Ja, es ist
ein Spotttölpel. Ich hebe einen Finger, um zu sagen: Warte, ich
beweise es dir, und mache eine Vogelstimme nach. Der Spotttölpel
legt den Kopf schräg und pfeift direkt zurück. Da pfeift Pollux zu meiner
Überraschung selbst ein paar Töne. Der Vogel antwortet sofort. Pollux sieht entzückt
aus und pfeifend unterhält er sich eine Weile mit dem Vogel. Bestimmt ist es
sein erstes Gespräch seit Jahren. Spotttölpel fühlen sich von Musik angezogen
wie Bienen von Blüten und in kürzester Zeit sitzt ein halbes Dutzend
Artgenossen in den Ästen über unseren Köpfen. Pollux tippt mir an den Arm und
schreibt mit einem Stöckchen ein Wort in die Erde: Singen ?
Normalerweise mache ich das nicht, aber Pollux kann ich
den Wunsch unmöglich abschlagen. Außerdem würde ich die Singstimmen der
Spotttölpel selbst gern wieder einmal hören. Und ehe ich recht weiß, was ich da
tue, singe ich Rues Melodie, die vier Töne, mit denen sie in Distrikt 11 immer
das Ende des Arbeitstages verkündete. Die Melodie, die schließlich zur Hintergrundmusik
ihres grausamen Todes wurde. Die Vögel wissen das nicht. Sie greifen die
einfache Tonfolge auf und lassen sie spielerisch hin und her wandern. Genau wie
in der Arena, bevor plötzlich die Mutationen zwischen den Bäumen auftauchten,
uns auf das Füllhorn jagten und Cato langsam in eine blutige Masse verwandelten
...
»Wollt ihr mal ein richtiges Lied hören?«,
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