Colorado Kid
Überrascht schaute Dave sie an. Es sah ein wenig aus, als erwache er aus dem Halbschlaf.
»Denn du bist eine von uns. Stimmt’s, Vince?«
»Ah jo«, entgegnete Vince. »Irgendwann im Sommer hast du die Prüfung bestanden.«
»Ach ja?« Wieder war sie grotesk glücklich. »Wie denn? Was für eine Prüfung?«
Vince schüttelte den Kopf. »Weiß ich auch nicht, mein Mädchen. Ich weiß nur, irgendwann war das Gefühl da, dass du in Ordnung bist.« Er warf Dave einen kurzen Blick zu, und der nickte. Dann wandte er sich wieder an Stephanie. »Gut«, sagte er. »Die Geschichte, die wir heute Mittag nicht erzählt haben, ist unser ganz persönliches ungelöstes Rätsel. Die Geschichte von Colorado Kid.«
5
Doch Dave war derjenige, der zu erzählen begann.
»Vor fünfundzwanzig Jahren«, sagte er, »also im Jahr 1980, gab es mal zwei Jugendliche, die zur Schule nie die Fähre um halb acht, sondern die um halb sieben nahmen. Sie gehörten zur Leichtathletikmannschaft der Bayview Consolidated High School und sie gingen miteinander. Sobald der Winter vorüber war – was hier an der Küste immer früher der Fall ist als auf dem Festland –, liefen sie querfeldein über die Insel, den Hammock Beach hinunter bis zur Hauptstraße, dann auf die Bay Street und zum städtischen Anleger. Kannst du sie vor dir sehen, Steffi?«
Das konnte sie. Sie sah auch die Liebe zwischen den beiden. Allerdings konnte sie sich nicht vorstellen, was das Pärchen tat, wenn es auf dem Festland in Tinnock angekommen war. Stephanie wusste, dass die zwölf bis fünfzehn Highschool-Kinder von Moose-Look fast immer die Fähre um halb acht nahmen. Sie gaben dem Fährmann – Herbie Gosslin oder Marcy Lagasse – ihren Ausweis und wurden mit einem kurzen Piepser der alten Laserpistole registriert. In Tinnock wartete der Schulbus auf sie, der sie die drei Meilen zur BCHS fuhr.
Stephanie erkundigte sich, ob das Pärchen dort ebenfalls auf den Bus gewartete hätte, doch Dave schüttelte lächelnd den Kopf.
»Nein, die sind drüben weitergelaufen«, erklärte er.
»Nix mit Händchenhalten, obwohl, es könnte schon sein. Die beiden waren unzertrennlich. Johnny Gravlin und Nancy Arnault. Ein paar Jahre lang passte kein Blatt zwischen sie.«
Stephanie setzte sich auf. Der John Gravlin, den sie kannte, war der Bürgermeister von Moose-Lookit Island, ein geselliger Mann, der für jeden ein gutes Wort übrig hatte und ein Auge auf einen Posten im Senat in Augusta geworfen hatte. Sein Haaransatz ging zurück, sein Bauch wölbte sich vor. Stephanie versuchte sich ihn als jungen Mann vorzustellen, der jeden Tag zwei Meilen über die Insel und dann noch mal drei auf dem Festland lief. Es gelang ihr nicht.
»Funktioniert nicht, mein Mädchen, was?«, fragte Vince.
»Nein«, gab sie zu.
»Tja, das liegt daran, dass du den Bürgermeister John Gravlin vor Augen hast, das größte Tier in diesem Zoo, und nicht den jungen Johnny Gravlin, der Fußball spielte und schnell laufen konnte, der freitagabends den Leuten Streiche spielte und sich samstags mit seiner Freundin traf. Der Bürgermeister tapert die Bay Street hoch und runter und grüßt die Leute, und beim Grinsen blitzt der Goldzahn in seinem Mund. Er hat ein gutes Wort für jeden, vergisst keinen Namen und weiß genau, wer einen Ford-Pick-up fährt und wer sich immer noch mit Daddys alter Erntemaschine herumschlägt. Er ist eine Karikatur wie aus einem Vierziger-Jahre-Film über Provinzpolitiker, er ist so hinter dem Mond, dass er es selbst nicht mal merkt. Gravlin ist eine dicke Kröte, die nur noch einen Sprung vor sich hat, und sobald er es in den Seerosenteich von Augusta geschafft hat, ist er entweder klug genug und hört auf, oder er versucht es noch mal und wird platt gemacht.«
»Mein Gott, wie zynisch«, sagte Stephanie, nicht ohne jugendliche Bewunderung für diesen Charakterzug.
Vince zuckte mit seinen knochigen Schultern. »Ach, ich bin selbst ein Stereotyp, mein Mädchen, nur komme ich aus dem Film, wo der Zeitungstyp mit den Ärmelhaltern und dem Sonnenschild auf dem Kopf in der letzten Einstellung losschreit: ›Haltet die Presse an!‹ Ich will darauf hinaus, dass Johnny damals ein anderer Mensch war: gertenschlank und schnell wie ein Windhund. Er sah aus wie ein junger Gott, wenn man nicht auf seine schiefen Zähne achtete, aber die hat er sich ja inzwischen richten lassen.
Und sie in dieser kurzen roten Hose … sie war wirklich eine Göttin.« Er dachte nach. »Wie fast alle
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