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Colorado Kid

Colorado Kid

Titel: Colorado Kid Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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–, und der Mann rutschte von der Mülltonne, die ihn gestützt hatte, auf die Seite. Der Kopf fiel in den Sand. Nancy schrie auf und lief, so schnell sie konnte, zurück zur Straße – und das war richtig schnell, kann ich dir sagen. Wenn sie da nicht stehen geblieben wäre, hätte Johnny ihr wohl bis zum Ende der Bay Street hinterherlaufen müssen, vielleicht sogar raus bis zum Ende von Anleger A. Aber sie blieb stehen, er kam zu ihr, legte den Arm um sie und sagte, er sei noch nie so froh gewesen, etwas Lebendiges im Arm zu halten. Er erzählte mir, er würde nie vergessen, dass sich die Schulter des Toten unter dem weißen Hemd wie Holz angefühlt hätte.«
    Dave unterbrach sich und stand auf. »Ich hole mir eine Cola aus dem Kühlschrank«, sagte er. »Ich habe einen trockenen Mund und die Geschichte ist noch lang. Sonst noch jemand?« 
    Tatsächlich wollten alle etwas trinken, und da Stephanie diejenige war, die unterhalten wurde (wenn das das richtige Wort war), ging sie die Getränke holen. Als sie zurückkam, standen beide Männer am Geländer, betrachteten das Meer und das Festland dahinter. Sie gesellte sich zu ihnen, stellte das alte Blechtablett auf die breite Brüstung und reichte jedem ein Glas.
    »Wo war ich stehen geblieben?«, fragte Dave, nachdem er einen großen Schluck getrunken hatte.
    »Das weißt du ganz genau«, gab Vince zurück. »An der Stelle, wo unser späterer Bürgermeister und Nancy Arnault, die inzwischen weiß Gott wo ist, wahrscheinlich in Kalifornien – die Guten versuchen immer, so weit wie es ohne Reisepass möglich ist, von der Insel fortzukommen –, Colorado Kid tot am Hammock Beach finden.«
    »Ah jo. Nun Johnny wollte mit ihr zum nächsten Telefon laufen, das wäre vor der öffentlichen Bücherei gewesen. Er wollte George Wournos anrufen, den damaligen Wachtmeister von Moose-Look, längst in die ewigen Jagdgründe eingegangen, der Gute. Nancy war einverstanden, aber zuerst sollte Johnny ›den Mann‹ wieder aufsetzen. Sie nannte ihn immer ›den Mann‹. Nie ›den Toten‹ oder ›die Leiche‹, sondern immer nur ›den Mann‹.
    Johnny sagte: ›Ich glaube nicht, dass es die Polizei gut findet, wenn wir ihn bewegen, Nan.‹
    Nancy meinte: ›Du hast ihn schon bewegt, du sollst ihn nur wieder so hinsetzen, wie er war.‹
    Und er erwiderte: ›Das habe ich nur getan, weil du es wolltest.‹
    Worauf sie antwortete: ›Bitte, Johnny, ich kann es nicht ertragen, ihn da so liegen zu sehen, ich will ihn nicht so in Erinnerung behalten.‹ Dann begann sie zu weinen und damit war die Sache geklärt. Johnny ging zurück zur Leiche, die noch immer auf der linken Seite im Sand lag. 
    An dem Abend im Breakers hat Johnny mir erzählt, dass er nie getan hätte, was sie von ihm verlangte, wenn sie ihm nicht dabei zugeschaut und auf ihn vertraut hätte. Das glaube ich ihm. Für eine Frau tut ein Mann viele Dinge, die er allein nicht wagen würde, vor denen er zu neunzig Prozent zurückschrecken würde, selbst wenn er betrunken wäre und seine Freunde ihn dazu drängten. Johnny sagte, je näher er diesem Mann kam, der mit angezogenen Beinen im Sand lag, als säße er auf einem unsichtbaren Stuhl, desto überzeugter war er, dass sich die geschlossenen Augen öffnen und der Mann sich auf ihn stürzen würde. Auch das Wissen, dass der Mann tot war, konnte ihm dieses Gefühl nicht nehmen, sagte Johnny, sondern hätte es nur noch schlimmer gemacht. Schließlich stand er vor dem Toten, riss sich zusammen, legte die Hände auf die hölzernen Schultern und richtete den Mann auf, lehnte ihn mit dem Rücken wieder gegen die schiefe Mülltonne. Johnny meinte, er habe sich die ganze Zeit vorgestellt, der Mülleimer würde polternd umkippen und er vor Schreck laut losschreien. Aber die Tonne kippte nicht um und Johnny schrie nicht. Ich bin der tiefen Überzeugung, Steffi, dass wir armen Kreaturen immer vom Schlimmsten ausgehen, weil es in Wahrheit so selten eintrifft. So erscheint uns das Mittelmäßige schon erträglich – fast gut sogar – und wir kommen zurecht.«
    »Glaubst du das wirklich?«
    »Na klar! Jedenfalls wollte Johnny gerade gehen, als er eine Schachtel Zigaretten entdeckte, die in den Sand gefallen war. Und weil das Schlimmste vorbei und es nur noch mittelmäßig war, konnte er sie aufheben – er nahm sich sogar vor, George Wournos zu erzählen, dass er das getan hatte, für den Fall, dass die Polizei sie auf Fingerabdrücke absuchte und seine auf der Zellophanfolie fand –

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