Colorado Kid
hinterlassen.«
»Außerdem«, fügte Vince hinzu, »kannte sich Cogan im Osten und an der Küste von Maine nicht aus. Soweit wir herausgefunden haben, war er nie zuvor hier gewesen. Du kennst die Straßen inzwischen, Steffi: Es gibt nur eine Hauptstraße, die von Bangor nach Ellsworth führt, aber wenn man in Ellsworth ist, gibt es drei oder vier Möglichkeiten. Da ist ein Auswärtiger, selbst wenn er eine Karte hat, schnell überfordert. Nein, ich glaube, Dave hat Recht. Wenn Colorado Kid mit dem Auto fahren wollte und vorher wusste, wie klein sein Zeitfenster sein würde, wird er dafür gesorgt haben, dass ein Fahrer auf ihn wartete. Jemand, der Bargeld brauchte, schnell fahren konnte und sich nicht verirrte.«
Stephanie dachte kurz nach. Die beiden Männer warteten.
»Das macht insgesamt drei Personen«, sagte sie schließlich.
»Ein Fahrer in Denver, der Pilot im Privatflugzeug und ein Fahrer hier.«
»Vielleicht sogar noch ein Copilot«, warf Dave schnell ein.
»So sind jedenfalls die Vorschriften.«
»Das ist doch so gut wie unmöglich«, bemerkte sie. Vince nickte seufzend. »Da widerspreche ich nicht.«
»Ihr habt keinen von denen gefunden, oder?«
»Nein.«
Sie dachte erneut nach, hielt den Kopf gesenkt, ihre sonst so glatte Stirn war tief gefurcht. Wieder ließen ihr die Männer Zeit, und nach vielleicht zwei Minuten schaute sie auf. »Aber warum? Was könnte fur Cogan so wichtig gewesen sein, um solche Umstände in Kauf zu nehmen?«
Vince Teague und Dave Bowie sahen sich an, dann sagte Vince: »Na, das ist wirklich eine gute Frage!«
»Eine supergute Frage«, echote Dave.
»Die größte Frage überhaupt«, ergänzte Vince.
»Natürlich«, meinte Dave. »War sie schon immer.«
Dann sagte Vince leise: »Wir wissen es nicht, Stephanie. Wir haben es nicht herausgefunden.«
Und Dave fügte noch leiser hinzu: »Das würde dem Boston Globe nicht gefallen. Ganz und gar nicht.«
17
»Wir sind natürlich nicht der Boston Globe «, sagte Vince.
»Wir sind nicht mal die Daily News aus Bangor. Aber Stephanie, wenn ein Erwachsener völlig aus der Spur läuft, dann sucht jeder Journalist, egal ob in einer Klein- oder Großstadt, nach einer Erklärung. Es ist unwichtig, ob am Ende die halbe Picknickgesellschaft der Methodisten vergiftet ist oder ob sich nur die männliche Hälfte eines Ehepaares eines Wochentags morgens leise verdrückt und nie wieder lebendig gesehen wird. Jetzt sag mir mal – ohne dass du bedenkst, wo James Cogan gelandet ist und wie unwahrscheinlich der Weg dahin ist –, was es für Gründe geben könnte, aus der Spur zu laufen. Zähle sie auf! Ich will mindestens vier Finger in der Luft sehen.«
Es gibt wieder Unterricht, dachte Stephanie. Dann fiel ihr etwas ein, was Vince einen Monat zuvor fast beiläufig gesagt hatte: Um im Nachrichtengewerbe erfolgreich zu sein, schadet es nicht, eine schmutzige Phantasie zu haben, mein Mädchen. Damals hatte sie seine Bemerkung abwegig gefunden, ja sogar leicht senil. Jetzt meinte sie, seinen Ausspruch besser zu verstehen.
»Sex«, sagte sie und streckte den linken Zeigefinger aus, den Finger namens Colorado Kid. »Will sagen: eine andere Frau.« Der nächste Finger. »Geld – Schulden oder Diebstahl.«
»Vergiss nicht das Finanzamt«, sagte Dave. »Manche Leute verdrücken sich, wenn sie merken, dass sie Onkel Sam was schuldig sind.«
»Damit kennt sie sich noch nicht aus, das kann man ihr nicht vorwerfen«, sagte Vince. »Weiter, Steffi, du machst das gut.«
Sie hatte noch nicht genug Gründe an den Fingern abgezählt, um ihn zufrieden zu stellen, aber ihr fiel nur noch einer ein.
»Der Wunsch, ein neues Leben zu beginnen?«, fragte sie zaghaft, eher sich selbst als die beiden Männer. »Einfach … keine Ahnung … alle Brücken hinter sich abzubrechen und als anderer Mensch an einem anderen Ort noch mal neu anzufangen?«
Dann fiel ihr doch noch etwas ein: »Wahnsinn?« Jetzt hielt sie vier Finger hoch: einen für Sex, einen für Geld, einen für Veränderung, einen für Wahnsinn. Zweifelnd betrachtete sie die letzten beiden: »Vielleicht sind Veränderung und Wahnsinn dasselbe?«
»Vielleicht«, entgegnete Vince. »Und man könnte argumentieren, dass der Begriff ›Wahnsinn‹ alle möglichen Abhängigkeiten einschließt, vor denen man weglaufen möchte. Manchmal wird einem ja geraten, aus dem alten Umfeld wegzuziehen. Ich denke in erster Linie an Drogen und Alkohol. Auch bei Spielsucht versuchen es die Menschen mit
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