Commissaire-Llob 3 - Herbst der Chimären
ihre sprachliche und kulturelle Besonderheit unterdrückt.] statt.
Viele sind gekommen, wollten es sich nicht neh-
men lassen, den Toten zu seiner letzten Ruhestätte
zu geleiten. Aus der ganzen Gegend sind sie her-
beigeströmt. Würdige Greise, stattliche Männer,
junge Leute, sichtlich unter Schock.
Idir Naït-Wali war keiner von den Notabeln. Ge-
wiß, er hatte einen der bedeutendsten Maler des
ganzen Landes zum Bruder, gewiß, sein Name
erhob den Stamm in den Rang einer Nation, doch
als Philosoph, der um den Wahn weltlicher Eitel-
keit wußte, war es ihm gelungen, eine aufrechte,
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zurückhaltende Gestalt zu bleiben, wie schon sein
Vater, sein Großvater und seine Ahnen es gewesen
waren. Ein geborener Hirte und unrettbarer Träu-
mer, Künstler nach Lust und Laune und Krieger
wider Willen. Sein Leben spielte sich im Schatten
seiner Ölbäume ab, nie sah man ihn anders als mit
dem Turban auf dem Kopf und der Flöte in Reich-
weite seiner Seufzer. Er besaß rund zwanzig Scha-
fe, denen er hingebungsvoll beim Grasen zusah,
ein Fleckchen Land am Ausgang vom Dorf und die
warme Zuneigung der Seinen. Er war primitiv,
weil er authentisch war, und seine Tage spulte er
ab wie andere die Perlen an ihrem Rosenkranz,
ohne Getue, ohne Tamtam, ohne weltbewegende
Überzeugungen, überzeugt wie er war, daß das
Glück – jedwedes Glück – eine Frage der Mentali-
tät sei, weiter nichts.
Gerade spricht der Imam: „Das schlimmste Un-
recht, das man dem lieben Gott antun kann, besteht
darin, jemandem das Leben zu nehmen. Denn nir-
gends zeigt sich die Großzügigkeit des Herrn ein-
drucksvoller als im Geschenk des Lebens.“
Neben mir steht Arezki und reibt sich pausenlos
die Hände an den Hüften trocken. Er hört nicht,
was der Imam sagt, sieht nicht die Vögel, die sich
in den verkümmerten Bäumen die Seele aus dem
Schnabel schreien. Von Zeit zu Zeit fällt sein ver-
störter Blick auf den weißumhüllten Körper seines
Bruders. Und erst dann faltet er, der so zerbrech-
lich und zerrupft aussieht, die Hände vorm Bauch
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und beugt das Genick noch ein wenig mehr vorn-
über.
Kaum sind die ersten Schaufeln Erde auf den
Leichnam gefallen, hat Arezki sich schon abge-
wandt. Ich folge ihm bis zur Straße, durch die sich zahllose Risse ziehen, und weiter hinauf bis auf
den Hügel, auf den er als Kind immer mit seinem
Bruder lief, um von dort oben Echos über das zer-
klüftete Land zu werfen. Selbstvergessen lehnt er
an einem Feigenbaum, einen Arm auf dem Stamm
ausgestreckt, den Kopf gegen den Handrücken
gestützt, selbstvergessen, eine Ewigkeit lang.
Mir fehlen die Worte.
Stumm verharren wir dort, zwischen Himmel und
Erde, winzig und stumm, zwei Staubkörnern
gleich. Um uns herum, so weit das Auge reicht,
verwüstetes Land. Mein Blick fällt auf ausgedörrte
Obstgärten, kahle Hügelkuppen und Geisterflüsse,
die dabei sind, ihrer Verlassenheit von Gott und
der Welt Gestalt zu geben. Am Fuß des Bergs, hin-
ter seinen Elendshütten verschanzt, modert Igidher
in der Sonne vor sich hin, undurchdringlich wie die Wege des Herrn. Meine Heimat ist nur noch ein
unermeßlicher Schmerz …
Hier bin ich geboren, vor sehr langer Zeit. Man
nannte es die Zeit der Kolonien. Damals waren die
Felder so unermeßlich weit, daß jenseits des Bergs, so schien es mir, das Nichts begann. Der Weizen
stand mir bis zu den Schultern, und doch hatte ich
ständig Hunger, Tag für Tag, Nacht für Nacht. Ich
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verstand schon damals nicht, aber es war mir egal:
Ich hatte das Glück, ein Kind zu sein. Wenn ich
dem Flug der Libelle zusah und mir dabei selber
Flügel wuchsen, wenn die Kaskaden meines La-
chens ins plätschernde Wasser der Brunnen tropf-
ten, wenn ich wie toll durchs Farnkraut tobte, ob-
wohl jeder Schritt wie ein Zweikampf war, wußte
ich: ich war als Dichter geboren wie der Vogel als
Sänger, und wie dem Vogel so fehlten auch mir nur
die Worte, es zu sagen.
Und heute, da verstehe ich noch immer nicht. Ich
taste mich vorwärts wie ein Blinder im hellen Ta-
geslicht. Zwar habe ich die Fesseln längst abge-
streift, doch der Lorbeer des Freigelassenen ist mir wie eine Scheuklappe. Mein Prophetenblick hat
jeden Halt verloren. Fast schäme ich mich für den
Erwachsenen, der aus mir geworden ist, und erwar-
te mein Alter mit demselben Argwohn wie andere
den Gerichtsvollzieher, denn die Dinge hienieden
machen mich längst nicht mehr träumen.
Die Nacht
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