Commissaire-Llob 3 - Herbst der Chimären
wie
tausend Sonnen gestrahlt. Hier aber gilt er als
Schattengestalt.
Ein Wohnhaus, das nur so starrt vor Schmutz, ein
Treppenhaus, das ausschaut wie eine öffentliche
Bedürfnisanstalt, und schon kommt hinter der Tür
mit der Nummer 13 ein ärmlicher Greis hervor,
zittrig und schlotternd wie Aspik.
Arezki hat den tragischen Gesichtsausdruck der
algerischen Intellektuellen. Ein bleiches Gespenst
mit zwei Augen, daß es einem das Herz durch-
bohrt, dazu die Hände eines Gefolterten.
„Wie hast du es geschafft, mich hier zu finden?“
„Ich habe die Fundamentalisten nach dem Weg
gefragt.“
Er lächelt, wobei seine Nase, die ohnehin schon
Halbmast zeigt, sich fast ganz über seinen Mund
herabsenkt. Er weicht beiseite wie ein schlaffer
Vorhang. Hätte ich die Wahl zwischen ewigen
Höllenqualen und dem Anblick des Elends, der
sich da vor mir auftut, im Interesse meines Seelen-
friedens zögerte ich keine Sekunde, für alle Zeiten in der Hölle zu schmoren.
„Meine Putzfrau ist krank“, flunkert er mich an,
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um das Gesicht zu wahren.
Mir fällt nichts ein, was ich sagen könnte, um das
meine zu wahren.
Mein Schweigen ist für uns beide peinlich. Er
blickt sich um, als gäbe es da etwas, an dem er sich festhalten könnte, entdeckt in einer zugemüllten
Zimmerecke ein Bündel, nimmt es unauffällig an
sich und macht mir ein Zeichen, daß er startklar ist.
Ich nicke und sage: „Ich warte im Auto auf dich.“
Wir durchqueren, ohne es zu merken, die ganze
Stadt, ich nervös auf mein Lenkrad eintrommelnd,
er mit seinem Bündel im Arm. Nicht ein einziges
Mal bekundet er Interesse für das Menschenge-
wühl, das ziellos die Gehwege überflutet, noch für
die Autofahrer, die uns rücksichtslos in wildem
Slalom überholen. Zusammengesunken sitzt er da,
sein Blick klebt an der Windschutzscheibe, seine
Lippen sind wie vernarbt. Trotz der glühenden
Sommerhitze hat er noch nicht mal daran gedacht,
die Scheibe herunterzukurbeln. Ich weiß nicht wa-
rum, doch als ich ihn so sehe, steigt plötzlich Groll gegen die ganze Welt in mir auf.
Nach einer guten Stunde Fahrt, als wir eben in
den Pfad der Verderbnis einbiegen, der weit von
jeder überwachten Straße wegführt, höre ich, wie
er den Griff um sein Bündel lockert. Ich spähe aus
den Augenwinkeln nach ihm, warte auf eine Reak-
tion. Ich hatte gedacht, er würde auf das Armatu-
renbrett einschlagen oder den Boden des Fahrzeugs
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mit Tritten traktieren, doch nicht die geringste
brüske Bewegung. Nur sein Adamsapfel zuckt im
kahlen Hals auf und ab, dann, Sekunden später,
klingt seine Stimme in einem pathetischen Gurgeln
auf: „Hat er sehr gelitten?“
„Andere haben Schlimmeres durchgemacht.“
Sein Atem gerät einen Moment aus dem Takt,
wird wieder regelmäßig. „Ich habe dich gefragt, ob
er gelitten hat!“
„Jetzt leidet er nicht mehr.“
„Schußwaffe?“
„Das macht ihn auch nicht wieder lebendig.“
Plötzlich sind seine Hände auf dem Lenkrad und
nötigen mich zu einer Vollbremsung am Straßen-
rand.
„Ich will es wissen!“
Ich stoße ihn wütend auf seinen Sitz zurück.
„Was willst du wissen, Arezki Naït-Wali? Liest du
keine Zeitungen, hörst du kein Radio? Wir sind im
Krieg. Dein Bruder ist tot, Punkt und Schluß.“
Er umklammert wieder sein Bündel, starrt weiter
auf die Windschutzscheibe. Eine Minute lang ver-
sucht er, dem Beben seiner Kinnspitze Einhalt zu
gebieten. „Ich möchte es auf keinen Fall erst im
Dorf erfahren, Brahim. Für mich ist es wichtig,
hier und jetzt Klarheit zu haben.“
Er seufzt, und in diesem Seufzen liegt so viel an
Kummer und Leid, daß meine Hand sich wie von
selbst auf seine legt.
Ich nehme all meinen Mut zusammen, bevor ich
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antworte: „Klinge.“
Mir ist, als könnte ich die Explosion wahrneh-
men, die ich tief in ihm drin ausgelöst habe. Lang-
sam, ganz langsam schrumpft er zusammen, wird
so klein, daß ich den Eindruck habe, ich könnte ihn von Kopf bis Fuß mit meiner hohlen Hand umfan-gen.
„Neiiin!“ Aufstöhnend läßt er sich nach hinten
fallen.
Und beginnt zu weinen.
* * *
Die Beerdigung findet auf dem alten Friedhof von
Igidher* [* Berberdorf in der Kabylei (östlich von Algier) –
Kabylen (von. arab. „qibla“ = Stamm) heißen die algerischen Berber, die 20-30 Prozent der Gesamtbevölkerung Algeriens ausmachen. Sie gelten traditionell als „rebellisch“
und stehen in Opposition zum totalitären Regime, das
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