Commissaire-Llob 3 - Herbst der Chimären
anderen verlassen
Verwandte und Bekannte das Haus, auf leisen Soh-
len, ein wenig verschämt, den Künstler in seinem
Kummer allein zu lassen. Ehe Mohand sich als
letzter zum Gehen anschickt, schaut er sich das
zerknitterte Foto des Verblichenen, das an der
Wand hängt, aus der Nähe an. Seine Mundwinkel
zucken, vermutlich um seine aufsteigende Wut zu
unterdrücken.
Er wiegt den Kopf, bemerkt: „War ein zawali* [*
armer Kerl] , einer der Stillen im Lande, der sich mehr um das Wohlergehen seiner Schafe als um
die eigene Krebskrankheit sorgte. Ich bin sicher, er fand es noch nicht einmal der Mühe wert, sich gegen seine Mörder zur Wehr zu setzen.“
Ich betrachte mit ihm zusammen Idirs Porträt. Er
war ein eingefleischter Junggeselle, dem nichts
über seine Unabhängigkeit ging. Lebte wie ein in
sich versponnener Einsiedler, der sein Glück in der heiteren Stille der Waldwiesen fand. Jetzt, da er tot ist, frage ich mich, ob er jemals wirklich existiert hat.
Mohand schaut auf seine Armbanduhr. „Zeit für
die Patrouille. Meine Männer sind bestimmt schon
unruhig … Seid Ihr sicher, daß Ihr hierbleiben
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wollt?“
„Gute Nacht!“ rufe ich ihm zu und ziehe mir de-
monstrativ die Schuhe aus.
„Gut, dann gehe ich jetzt. Ich werde drei oder
vier Männer in der Nähe postieren, für den Fall,
daß es diesen Irren einfallen sollte, an den Ort ihres Verbrechens zurückzukehren.“
Ich zeige auf meine dicke Knarre. „Wir sind ge-
wappnet.“
Mohand nickt und zieht sich zurück, nicht ohne
sorgfältig die Tür hinter sich zu schließen.
„Versuch zu schlafen“, brumme ich Arezki zu
und mache mich auf einer Strohmatte lang. Ich
rücke das Kopfkissen gegen die Wand, lasse meine
Faust einmal drauf niedersausen, damit es sich be-
quemer liegt, schiebe meine 9mm-Pistole darunter
und verschränke die Hände im Nacken, so daß ich
Arezki im Blickfeld habe.
Der Bürgermeister hat uns eingeladen, die Nacht
in seinen Räumlichkeiten zu verbringen, aber A-
rezki wollte unbedingt im ärmlichen Loch seines
Bruders bleiben, zwischen den vorsintflutlichen
Möbeln, die in ihrer schlichten Archaik das Herz
anrühren, und den nicht greifbaren Erinnerungen.
„Soll ich dir vielleicht noch ein Wiegenlied sin-
gen?“
Arezki blickt mich strafend an. „Du hast aber
auch vor nichts Respekt.“
„Hör auf mit dem Gejammer! Idir schläft längst.
Versuch, es ihm nachzutun. Morgen fahren wir in
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aller Früh zurück. Ich habe nicht die Absicht, einen Kran anzuheuern, um dir auf die Beine zu helfen.“
Arezki ist außer sich. „Ich fahre nicht mit.“
„Aber sicher fährst du mit.“
„Mein Platz ist hier.“
„Sei so gut und mach endlich das Licht aus. Die-
se unmögliche Glühbirne geht mir auf den Geist.“
Er löscht das Licht.
Ich ziehe mir die Decke übers Gesicht und die
Knie bis zur Nasenspitze hoch, dann rühre ich
mich nicht mehr.
Nichts hilft besser als die Dunkelheit, einem
Mann die Last von der Seele zu nehmen.
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„Schon zurück, Kommy?“ Lino setzt die Sonnen-
brille ab, sieht mich an und macht dabei ein Ge-
sicht wie eine Springmaus, die in ihrem Bau unver-
sehens eine Schlange entdeckt.
„Hast wohl gehofft, ich würde für immer in der
Pampa verschwinden?“
„Ich dachte, du bleibst noch ein paar Tage, um
aufzutanken.“
„Gib schon zu, daß du auf den Geschmack ge-
kommen bist!“
Lino stößt die Tür mit dem Absatz zu und läßt
sich auf den Stuhl gegenüber meinem Schreibtisch
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fallen. Er wischt sich die Brille am Hemd ab und
setzt sie wieder auf.
„Und, wie läuft es so in der Heimat?“
„So wie überall.“
„Und dein Freund, der Künstler?“
„War ein schwerer Schlag für ihn. Ich mußte ihn
in der Zwangsjacke nach Algier zurückschleifen.
Im Dorf hätte er eine prima Schießscheibe abgege-
ben.“
„Und unterwegs ist nichts passiert?“
„Wir hatten bloß Glück. Nächstes Mal fordere
ich Geleitschutz an.“
„Aha.“ Lino mustert eingehend seine Fingernä-
gel, die Augenlider halb geschlossen. Sein Mangel
an Enthusiasmus läßt in mir alle Alarmglocken
läuten. Ich verstehe, daß während meiner Abwe-
senheit irgend etwas passiert sein muß.
Ich schiebe das Telefon beiseite, um den auswei-
chenden Blick des Leutnants einzufangen. Er wen-
det sich ab und tut so, als interessiere er sich brennend für die Dienstanweisungen, mit denen die
Wand tapeziert ist.
„Schieß schon los!“ ermuntere ich ihn.
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