Commissaire-Llob 3 - Herbst der Chimären
zieht schwarzgallig über dem alten
Stammland der Naït-Wali herauf. Einst ein wun-
dervoller Augenblick. Die Sterne waren zum Grei-
fen nah. Die heiligen Schutzpatrone der dechra* [*
Dorf, Gemeinde] wachten über uns. Wir schauten dem Tanz der Irrlichter über der Öllampe zu und
waren mit allen Dingen und Wesen versöhnt. Wir
waren arm, aber nicht unglücklich, lebten für uns,
aber nicht vereinsamt, waren ein Stamm und wuß-
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ten, was das hieß. Die Faszination der Ferne, die
Verheißungen der Großstadt, die lockenden Ge-
sänge der Chimären … nichts davon kam dem
Schellenklang an den Hälsen unserer Ziegen
gleich. Wir waren eine Rasse freier Männer, und
wir hielten uns fern von der Welt, ihren Bestien
und Höllenhunden, ihren Machern und Machen-
schaften, ihren Protesten und Manifesten, ihrem
Industrielärm und ihrem Investitionsgeschrei …
Heute hat der Abend sämtliche Lichter ver-
schluckt. Schaudernd erbleichen die Sterne am
Himmel von Igidher. Das Höllentier ist da. In der
Stille des Untergrunds schickt es sich an, uns das
Leben zu verdüstern.
„He, Brahim, du stößt gleich mit einem Satelliten
zusammen!“
Ich schrecke hoch.
Mohand läßt sich neben mich fallen, das Gewehr
zwischen die Schenkel geklemmt. „Komm auf die
Erde zurück, alter Freund“, fügt er hinzu. „Das
Spiel läuft hier.“
Er kramt eine Schachtel Zigaretten hervor, hält
mir eine hin: „Rauchst du?“
„Nein, danke.“
Er betätigt das Feuerzeug, macht drei gierige
Lungenzüge und atmet durch die Nase aus. Unten
in der Ferne, am Fuß des Hügels, schimmert der
Weiler Imazighène wie eine Ansammlung von
Glühwürmchen.
Ich lege einen Stein mit der Schuhspitze frei und
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befördere ihn in den Graben.
Mohand dreht sich zu mir um, sucht meinen
Blick. Er bläst mir seinen weingeschwängerten
Atem ins Gesicht. „Schnupperst du wieder am
Korken?“
„Die Landluft ist auch nicht mehr, was sie mal
war.“
„Was genau ist passiert?“
„Wir haben ihn in seinem Gemüsegarten gefun-
den, mit durchschnittener Kehle.“
„Und weiß man, wer’s war?“
„Da muß man nicht lang suchen.“
„Warum ausgerechnet Idir?“
„Er war zufällig da, weiter nichts. Seit ein paar
Tagen wird vor einer Gruppe von Marodeuren hier
in der Gegend gewarnt. Sie haben sich den Erstbes-
ten, der ihnen über den Weg lief, geschnappt. Ihre
Art, uns wissen zu lassen: Hallo! Wir sind wieder
da!“
Mohand betrachtet das glühende Ende seiner Zi-
garette, bevor er sie auf einem Stein ausdrückt. Der Abendwind bläst die Funken durchs Gebüsch. Wir
verstummen für einen Moment und lauschen dem
nächtlichen Grillengezirpe.
„Glaubst du, sie werden wiederkommen?“
„Die sollen nur kommen, wir sind bereit.“ Wie-
der sucht er meinen Blick. „Wie lange wird das
noch so weitergehen, dieser Mummenschanz, Bra-
him?“
„Das fragst du mich?“
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„Igidher ist nicht Algier. Hier hat man keine Zeit, das alles zu verstehen.“
„Drüben in Algier weiß man auch nicht mehr,
welchem Teufel man noch vertrauen kann. Es ist
die Hölle, Mohand, ein heilloses Durcheinander,
der größte Schwindel, den du dir nur vorstellen
kannst.“
Er stampft mit dem Gewehrkolben auf den Bo-
den. „Was um alles in der Welt machen denn unse-
re Verantwortlichen?“
Jetzt bin ich es, der sich zu ihm umdreht. Und
was ich in seinen ausgemergelten Zügen lese, ver-
stört mich gewaltig. Er ist verdammt alt geworden,
der gute Mohand. Als ich ihn das letzte Mal sah, da hatte er kein einziges weißes Haar. Drei Jahre spä-
ter, und schon auf der Schwelle zum Greisenalter.
Hat mehr Falten als ein altes Pergament, und der
Blick seiner Augen, der früher so packend war,
brennt heute unerträglich.
„Die Verantwortlichen? Welche Verantwortli-
chen? Meinst du die Komiker, die man in den
Nachrichten sieht, diese hoffnungslosen Hanswürs-
te? In unserem Land, Mohand, gibt es nichts als
Schuldige und Opfer. Wenn du ein Problem hast,
ist es dein Problem.“
Meine Direktheit schockiert ihn. Er steht auf,
umklammert wütend sein Gewehr und stapft mit
gebeugtem Rücken davon. Ich sehe ihm nach, bis
er die Piste erreicht. Ein ratloses Gespenst.
Dann stehe ich ebenfalls auf, klopfe mir den
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Staub vom Hosenboden und gehe hinauf in den
Patio, wo die Alten und Freunde einem gramerfüll-
ten Arezki Beistand leisten.
Gegen Mitternacht beginnt das Lamento allmählich
zu verebben. Einer nach dem
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