Commissaire-Llob 3 - Herbst der Chimären
zuguns-
ten des anderen zu vernachlässigen, hatte er un-
recht? Eines ist gewiß: Er horchte auf sein Gewis-
sen, und das ist alles andere als selbstverständlich.
In einem Algerien, das verzweifelt auf der Suche
nach sich selber war, ging Brahim, gleich ob im
Schatten oder im Rampenlicht, während jeder um
seinen Platz an der Sonne buhlte, aufrecht und ge-
radlinig seinen Weg. Verführerische Angebote,
Aussicht auf Profit, gute Gelegenheiten, die an-
dernorts Diebe machen, all dem ist er nie erlegen.
Und das wird man ihm nie verzeihen. Brahim hielt
unbeirrbar Kurs auf das, was ihm loyal und gerecht
erschien; alles andere hatte wenig Bedeutung für
ihn. Er legte von Anfang an seine Marschroute fest
und hat sie sein Leben lang eingehalten, couragiert und uneigennützig. Heute hat er nichts zu bereuen.
Er war erfolgreich. Er ist mit sich und seinem Ge-
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wissen im reinen, und das, das können leider Got-
tes nicht viele unter uns von sich behaupten …
Was soll man sagen über einen Mann, der eine
Laufbahn als Ordnungshüter angetreten hat, um
tatsächlich ein Hüter der Ordnung zu sein, der mit
aller Kraft an Recht und Gerechtigkeit geglaubt
und schwer geschuftet hat, um ihr würdiger Diener
zu sein, während andere sie schamlos für sich
selbst zurechtbogen, der elementarsten Regeln von
Anstand und Sitte spottend? Nichts. Man sagt
nichts. Man schweigt und schaut zu. Das Schamge-
fühl verlangt, daß man vor so viel aufrechtem Sinn
verstummt. Vor allem, wenn er einem selber ab-
geht.“
Er dreht sich zu mir um, sieht mich eindringlich
an. Seine Augen glänzen, die Blätter in seiner
Hand sind völlig zerknüllt:
„Brahim, mein Freund, falls es überhaupt jeman-
den gibt, der es verdient hat, Polizist zu sein, mit einem P, das so hoch wie eine Säule ist, dann du.“
Der hintere Teil vom Saal erbebt in einer ohren-
betäubenden Ovation. Die Euphorie setzt sich nach
und nach bis in die vorderen Reihen fort, über-
schwemmt zuletzt die Tribüne. Einer der Buddhas
steht plötzlich auf und klatscht so ungestüm Bei-
fall, daß er sich fast die Handflächen wundreibt.
Reihe für Reihe erhebt sich der Saal in schallen-
dem Gejohle. Lino pufft Ewegh in die Seite, um
ihn aufzuwecken, und zwinkert mir zu. Bayas Ju-
beltriller spritzen hoch auf wie Wasserstrahlen. Der 185
Direktor kommt mir mit weitgeöffneten Armen
entgegen, und das trotz der vergrätzten Miene von
Mourad Smaïl. Ich erhebe mich, um mich mit ihm
ins Getümmel zu stürzen.
„Vielen Dank“, stammle ich. „Ich bin zutiefst ge-
rührt.“
Nach der Zeremonie wollen Leutnant Chater und
sein Ninja*-Trupp [* algerische Spezialeinheit zur Terro-ristenbekämpfung] unbedingt Erinnerungsfotos mit mir im Hof der Zentrale schießen. Andere Wegge-fährten kommen hinzu, um mich zu beglückwün-
schen und moralisch aufzurüsten. Capitaine Berrah
von der Geheimdienstzentrale, der den Höhepunkt
des Spektakels aufgrund einer technischen Panne
verpaßt hat, stößt dazu, als ich mich gerade verab-
schieden will. Sein Rochengesicht hat er hinter
einer Sonnenbrille versteckt, was mich ungemein
beruhigt. Eweghs Ausrutscher** [** siehe die Szene in
„Doppelweiß“, in der Ewegh den Geheimdienstoffzier Berrah zusammenschlägt] ist dabei, sich in eine halb ver-gessene falsche Bewegung zu verwandeln, denn
die Plattnase nimmt langsam wieder Gestalt an. Er
läßt sich sogar fotografieren, erst mit mir, dann
zwischen Lino und den Targi geklemmt, wodurch
ein sinnloses Ressentiment begraben wird. Inspek-
tor Bliss nähert sich schüchtern lächelnd auf Ze-
henspitzen. Er wartet geduldig, bis der Fotograf
seine Utensilien verstaut hat, dann baut er sich vor mir auf. Seine Nagetierhand betastet einen Sticker
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in den algerischen Nationalfarben, den er am Ja-
ckettkragen trägt.
„Ich frage mich bloß, an wem ich mich jetzt
schadlos halten soll, wo du mir zwischen den Fin-
gern durchflutschst, Kommissar.“
Es ist das erste Mal, daß er mich Kommissar
nennt. Er ist sichtlich bewegt. „Dich habe ich lieber als jeden anderen verpfiffen“, schiebt er mit belegter Stimme nach. Er löst den Sticker mit flatternder Hand vom Revers und steckt ihn mir an die Brust.
„Hat mir mein Sohn an einem 5. Juli geschenkt.
Heute schenke ich ihn dir. Ich nehme nicht den
ersten Platz in deinem Herzen ein. Ich werde mich
mit einem Quadratzentimeter auf deiner Jacke be-
gnügen. Mehr braucht’s nicht, um mich
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