Commissaire-Llob 3 - Herbst der Chimären
Die
Straßen luden mich ein, an ihrem Glück teilzuha-
ben, breiteten Geschäfte, Schaufenster, Grillbuden
und lauschige Plätze vor mir aus; und ich, der kes-
se Bauernjunge in seinem billigen, übergroßen
Tergalanzug, der mit seinen breiten Streifen wie
ein Sträflingshemd wirkte, in seinem Hemd, dessen
gestärkter Kragen das halbe Revers verdeckte, ich
paradierte stundenlang umher, mächtig stolz auf
mein Cowboy-Koppel mit der mächtigen Gürtel-
schnalle, auf der zwei versilberte Winchester
prangten. Mein Herz schlug beim kleinsten Lä-
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cheln auf Frauenlippen höher, ich war in jeden
weiblichen Vornamen verliebt.
Mit meinem Gesicht eines Dorfgigolos und mei-
nen nagelneuen Inspektorstressen machte ich mich
daran, die Herzen zu erobern. Ich war achtund-
zwanzig und hatte genausoviel Gründe, die mich
glauben ließen, Algerien sei mein.
Und eines Tages, während ich mich als Liebha-
ber von ganz Algier fühlte, begegnete ich Mina. Im
hintersten Winkel der Kasbah, bei einem Färber.
Ich war gekommen, um mir eine Krawatte für den
Samstagabend auszuleihen. Sie war schon da und
wartete auf den Burnus ihres Vaters. Es war ein
magischer Moment, von höchster Intensität. In
ihren weißen Schleier gepfercht und von meinen
dreisten Blicken verschreckt, suchte sie mich mit
ihrem Blick in die Schranken zu weisen, wie es
sich für Töchter aus besserem Hause geziemt. Aber
Mina hatte keinen Blick, sondern riesengroße Au-
gen, die mich rettungslos verzauberten. Seither
sehe ich immerzu diese Augen vor mir, wenn die
Sonne aufgeht, wenn sich ein hinreißender Anblick
auftut, diese Augen, die so schön sind, daß ich
mich von ihnen überzeugen ließ, daß die Liebe zu
einer einzigen Frau alle Liebe der Welt umfaßt.
Und heute, was blieb vom Algier jener Tage üb-
rig? Die Geschichte wird von der Tragödie Alge-
riens die Erinnerung an den Irrweg eines Volkes
bewahren, das wie unter Zwang stets dem falschen
Guru nachlief, und die Erinnerung an eine Affen-
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horde, welche, die Gunst der Stunde nutzend, sich
mangels Stammbaum auf Brotbäume und Galgen
spezialisierte. In einem Land, mit dem sich alles
machen ließ – nur kein Staat.
* * *
Es ist zwanzig Uhr zehn, als Leutnant Lino in der Rue des Frères-Mostefa eintrifft. Die Gehwege
sind schwarz vor Menschen. Lichter von Polizeiautos kreisen langsam durch die Nacht, lassen ihren bläulichen Schein über die Fassaden huschen. Von den Balkonen herab beobachten die Familien in
unerträglichem Schweigen das Treiben auf der
Straße.
„Was ist denn jetzt schon wieder los?“ brummt
Lino und stellt sein Auto eilig am Bordstein ab. Ein Polizist macht ihm Zeichen, zu verschwinden. Lino zückt seine Dienstmarke.
„Was ist hier los?“
Ohne auf Antwort zu warten, steigt er aus und
geht auf die Menge zu, immer schneller, je näher er dem Ort des Geschehens kommt, läuft schließ-
lich mit wild klopfendem Herzen drauflos.
Er schiebt die Gaffer zur Seite, bahnt sich seinen Weg bis zum Gebäude mit der Hausnummer 51.
Der Anblick, der sich bietet, verschlägt ihm den Atem.
„Nein, das ist nicht wahr“, stammelt er ungläu-
big, während ihm der Boden unter den Füßen weg-
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rutscht.
Ein Mann liegt am Boden: Es ist Kommissar
Llob. Er hat die Augen verdreht, den Mund weit
aufgerissen, den Brustkorb grauenvoll zerfetzt.
Lino tastet nach einem Halt, lehnt sich gegen die Mauer, um nicht zusammenzusinken. Doch seine
Beine geben nach; er rutscht in Zeitlupe zu Boden, vergräbt den Kopf in beiden Händen und krümmt
sich zusammen. Aus weiter Ferne hört er, wie jemand sagt:
„Sie haben aus einem vorbeifahrenden Wagen
auf ihn gefeuert. Sie haben ihr ganzes Magazin
leergeschossen. Sie ließen ihm keine Chance.“
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Bilder eines „unsichtbaren“ Krieges
Nachwort von Beate Burtscher-Bechter
Als in Frankreich im März 1997 mit Morituri (dt. Morituri, 1999) der erste Band der Kriminalromantrilogie um Commissaire Llob unter dem weiblichen Pseudonym Yasmina
Khadra erschien, wurden bereits erste Zweifel laut, ob die in rauhem Ton geschilderten Ereignisse und die ungeschminkte Darstellung blutiger Auseinandersetzungen tatsächlich aus der Feder einer Frau stammten. Hartnäckig hielten sich auch nach der Veröffentlichung von Double blanc (1997, dt. Doppelweiß, 2000) und L’Automne des chimères (1998, dt.
Herbst der Chimären, 2001), dem zweiten und dritten Band der Trilogie, die unterschiedlichsten Gerüchte
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