Commissaire-Llob 3 - Herbst der Chimären
glücklich
zu machen, glaub mir.“
Er legt mir die Hände auf die Schultern, küßt
mich flüchtig. „Wirst mir fehlen.“ Und macht sich
aus dem Staub, unfähig, seine Rührung zu unter-
drücken.
Während er sich betrübt seinen Weg durch die
Menge bahnt, frage ich mich, ob Feindschaft letzt-
lich vielleicht nur auf einem banalen Mißverständ-
nis beruht, einem fatalen Kommunikationsproblem.
Lino schlägt vor, im Rimmel weiterzufeiern, einem schicken Restaurant an der Küste. Ich erkläre
ihm, daß mir sehr viel mehr danach zumute ist,
mich einfach treiben zu lassen. Es ist ein prachtvoller Tag, und es täte mir gut, eine Weile Zwiespra-
che mit meinem Schatten zu halten. Er dringt nicht
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weiter in mich und verspricht, gegen Abend bei
mir vorbeizuschauen.
„Versuch dich nicht schon vorher zu besaufen.“
„Werde tun, was ich kann …“
Ich habe mich durch eine kleine im Efeu versteckte
Tür abgesetzt, meinen Wagen vom Parkplatz ge-
holt und bin den ganzen Vormittag durch die Stra-
ßen gekurvt. Gegen Mittag bin ich in einem Bistro
zu Füßen des Märtyrerdenkmals eingekehrt und
habe drei Sandwiches mit Merguez verdrückt, ein
halbes Dutzend Zigaretten gequalmt und mir da-
nach einen anständigen Kaffee auf der Terrasse
vom Oasis genehmigt, im Schatten regenbogenfar-bener Sonnenschirme. Gegen fünfzehn Uhr bin ich
zur Moutonnière* [* Name der Schnellstraße, die nahe der Küste vom Flughafen zur Stadt führt] zurück und habe einer Gruppe Clochards beim Streiten zugesehen.
Ihr unverständliches Gezänk sprudelte aus den
Wellen hoch und zerfranste weit hinten am Hori-
zont, aufgesogen vom Tumult des Mittelmeers.
Das Meer ist in Trance. Es wirft seine Sturms-
trupps ans Ufer, versucht, die Felsen zu zerbrö-
ckeln, macht Vorstöße und Rückzieher, die nie-
manden täuschen. Eines schönen Tages werde ich
mir Angeln kaufen und von der alten Landungs-
brücke herab den Fischen auflauern. Ich werde mir
einen Sonnenhut überstülpen und von früh bis spät
mit meinen Kindern plaudern. Mina wird mir zuse-
hen, wie ich unermüdlich meine Köder auswerfe,
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einen immer weiter als den anderen, und jede mei-
ner Handbewegungen wird unter ihrem Blick zu
einer Heldentat. Später werden wir am Strand die
gefangenen Fische grillen. Der Abend wird es nicht
leicht haben, uns aus unseren Träumen zu reißen.
Ein Spaziergänger fragt mich nach der Uhrzeit.
Seltsamerweise ist meine Uhr um fünf nach halb
vier stehengeblieben. Ich werfe mir die Jacke über
die Schulter und mache mich Richtung Stadt auf
den Weg, entlang der Küstenpromenade, quer
durch Bab El-Oued und die Kasbah, und parke
zuletzt an der Place des Martyrs. Auf der Suche
nach ich weiß nicht was. Algier ist manchmal wie
eine Dunkelkammer. Ein einziger Lichtstrahl könn-
te alles verderben.
Ich muß an Serdj denken, den sie in einer vorge-
täuschten Straßensperre einen Kopf kürzer ge-
macht haben, an seinen Jüngsten, der bei der Trau-
erfeier hinter einem Fahrradreifen herlief, ohne zu begreifen, warum so viele Leute im Haus waren.
Einen Seufzer weiter steht mir eine zertrümmerte
Bar vor Augen. Selbstgebastelte Bombe. Eine
Schule erinnert mich daran, daß sie auf Schüler
geschossen haben, die kaum den Windeln ent-
wachsen waren. Eine Toreinfahrt erzählt mir die
Geschichte des jungen Rekruten, der nie die Pensi-
onärsfreuden des Kegelns kennenlernen wird.
Nichts als Tragödien auf meinem Weg, nichts als
tragische Mißverständnisse …
Ich erinnere mich an den Tag, an dem ich zum
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ersten Mal den Fuß nach Algier gesetzt habe. Es
war ein Freitag. Der ächzende Bus, der mich auf
dem Umweg über Ghardaïa aus Igidher entführt
hatte, kam genau in dem Moment auf dem Place du
1er Mai zum Stehen, als der Muezzin zum Dohr -
Gebetrief. Ich hatte meinen Koffer am Eingang der Moschee abgestellt. Nach dem Gebet stand er
immer noch da, nur eine Spur zur Seite geschoben,
um den Zutritt in den Gebetsraum freizuhalten. Das
war 1967, zu einer Zeit, da man die Nacht verbrin-
gen konnte, wo sie einen überraschte, ohne um
seinen Geldbeutel bangen zu müssen, geschweige
denn um sein Leben.
An jenem Freitag übertraf der Frühling sich
selbst. Die Balkons standen in vollem Blüten-
schmuck, und die Mädchen, eingehüllt in milchige
Siegesbanner, dufteten wie Blumenwiesen. Es war
die Zeit, da der Zufall die Tage nach dem Vorbild
des lieben Gottes schuf – glückliche Tage.
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