Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe
gewesen war, endgültig die Alarmglocken schrillen ließ. Brunetti hatte keine Ahnung, was Rizzardi verheimlichte, war sich jetzt aber sicher, dass es da etwas gab.
Niccolini nahm die frühere Haltung des Pathologen ein und lehnte sich mit dem Rücken an das Geländer.
Lautes Kriegsgeschrei lenkte ihre Aufmerksamkeit ans hintere Ende des campo, wo Marco in immer engeren Kreisen um einen der Bäume herumraste. Brunetti sah dem Jungen zu und wunderte sich über Niccolinis Verhalten. Hinterbliebene äußerten Trauer oder brachen in Tränen aus, das war normal. Er hatte in seiner Karriere aber auch das Gegenteil erlebt: kaltherzige Befriedigung über den Tod von Vater oder Mutter. Niccolini hingegen war wie gelähmt, und zugleich wirkte er nervös. Warum sonst nötigte er Rizzardi zu wiederholen, dass seine Mutter eines natürlichen Todes gestorben war?
Rizzardi schob den Ärmel seines Jacketts hoch und sah auf die Uhr. »Entschuldigen Sie, Signori, aber ich habe eine Verabredung.« Nachdem er Niccolini die Hand gegeben und sich höflich verabschiedet hatte, sagte er Brunetti, er werde ihm den schriftlichen Bericht so bald wie möglich zukommen lassen und bitte um Rückruf, falls noch Fragen offen seien.
Niccolini und Brunetti sahen dem Pathologen schweigend nach, während er über den campo ging und im Krankenhaus verschwand.
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A ls Rizzardi gegangen war, fragte Brunetti mit einer Kinnbewegung zum Krankenhaus hin: »Haben Sie dort noch etwas zu erledigen?«
»Nein, ich glaube nicht«, antwortete Niccolini mit einem entschiedenen Kopfschütteln. »Ich habe vorhin ein paar Sachen unterschrieben, aber sonst habe ich dort nichts mehr zu tun, hat man mir gesagt.« Er blickte zwischen dem Krankenhaus und Brunetti hin und her. »Man hat mir gesagt, ich kann erst am Nachmittag zu ihr. Um zwei.« Und mehr zu sich selbst: »Das hätte nicht passieren dürfen.« Um etwaigen Zweifeln Brunettis zuvorzukommen, erklärte er: »Sie war eine gute Mutter.« Und schließlich: »Sie war eine gute Frau.«
Jahrzehntelange Polizeiarbeit hatte Brunetti noch immer nicht den Glauben an das Gute im Menschen genommen. Erfahrung hatte ihn gelehrt, die meisten waren tatsächlich gut, jedenfalls solange sie nicht in ungewöhnliche oder schwierige Situationen gerieten: Dann aber sah es oftmals anders aus. Zu seiner Überraschung fiel Brunetti die Gebetszeile ein: »Führe uns nicht in Versuchung.« Welch tiefe Einsicht dahintersteckte - stammte das nicht von Jesus selbst? -, die Erkenntnis, wie leicht wir in Versuchung geraten und wie leicht wir ihr erliegen, und wie gut wir daran tun, dafür zu beten, gar nicht erst in Versuchung geführt zu werden.
»... meinen Sie, man wird ...«, hörte er Niccolini sagen und wandte sich ihm wieder zu. Der verstummte mitten im [70] Satz, hob eine offene Hand zum Himmel und ließ sie dann resigniert wieder sinken, als sei es dem Himmel wohl eher gleichgültig, was seiner Mutter widerfahren war.
Brunettis Gedanken waren nur kurzfristig abgeschweift. Er wollte unbedingt noch mehr von dem Tierarzt erfahren und schlug daher nach einem Blick auf die Uhr vor: »Wenn Sie wollen, Dottore, könnten wir gemeinsam etwas essen gehen.« Er hielt inne, hob unwillkürlich die Hände und trat einen Schritt zurück. »Aber wenn Sie lieber allein sein möchten, bitte, dafür habe ich Verständnis.«
Niccolinis Miene blieb ausdruckslos. Schließlich sah auch er auf die Uhr, lange und konzentriert, als müsse er sich darauf besinnen, was die Zahlen zu bedeuten hatten.
»Eine Stunde habe ich noch«, erklärte er. Und dann entschlossen: »Das sollte reichen.« Er sah sich suchend auf dem campo um. »Ich weiß sowieso nicht, was ich bis dahin machen soll, und auf die Weise vergeht die Zeit schneller.« Sein Blick fiel auf die Bar, in der sie Kaffee getrunken hatten. »Alles hat sich verändert«, sagte er.
»Die Bar? Oder der campo ?«, fragte Brunetti. Oder meinte Niccolini das Leben? Jetzt. Danach.
»Einfach alles«, sagte Niccolini. »Ich bin nicht mehr so oft in Venedig. Nur um meine Mutter zu besuchen, und die wohnt so nah am Bahnhof, dass ich von den anderen Teilen der Stadt nichts mitbekomme.« Er sah sich um, staunend wie ein Tourist, der das alles zum ersten Mal erblickt. Dann wies er auf Santa Maria dei Miracoli. »Ich bin auf die Grundschule Giacinto Gallina gegangen, daher kenne ich die Gegend hier. Oder kannte sie, genauer gesagt.« Er zeigte auf eine der Bars. »Sergio ist weg, jetzt wird die Bar von
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