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Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe

Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe

Titel: Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
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einem [71]  Chinesen betrieben. Und die zwei alten Leute vom Rosa Salva sind auch nicht mehr da.«
    Als machte der Name der Bar ihm Mut, begann er, darauf zuzugehen. Brunetti schritt neben ihm her, offenbar war seine Einladung angenommen worden. Stillschweigend kamen sie überein, sich draußen hinzusetzen, an einen Tisch ohne Schirm, um die letzten Strahlen der Herbstsonne zu genießen. Auf dem Tisch lag eine Speisekarte, aber die beachteten sie nicht. Als der Kellner kam, bat Brunetti um ein Glas Weißwein und zwei tramezzini: egal, was für welche. Niccolini nahm das Gleiche.
    In den ersten Monaten nach dem endgültigen Ausbruch ihrer Alzheimer-Erkrankung, der sie schließlich erliegen sollte, war Brunettis Mutter in dem Altersheim weiter hinten an der Barbaria delle Tole gewesen. Doch auch wenn Brunetti daran gelegen war, von Niccolini Näheres über dessen Mutter zu erfahren, wollte er sich doch nicht in sein Vertrauen einschleichen und ihn zum Reden bringen, indem er ihm von den Leiden der eigenen Mutter erzählte.
    Sie warteten schweigend, eigenartig entspannt, wie sie da so beisammensaßen. »Haben Sie sie oft besucht?«, fragte Brunetti schließlich.
    »Bis vor einem Jahr«, sagte Niccolini. »Aber dann hat meine Frau Zwillinge bekommen, und seitdem ist meine Mutter immer zu uns gekommen.«
    »Nach Vicenza?«
    »Nach Lerino, genau genommen; da stammen meine Eltern ursprünglich her. Ich habe sie dann immer vom Bahnhof abgeholt.« Der Kellner brachte den Wein. Brunetti nahm sein Glas und trank. Niccolini ließ seins stehen und [72]  fuhr fort: »Wir haben noch ein Kind, eine Tochter. Sechs Jahre alt.«
    Brunetti dachte daran, wie viel Freude seine Mutter an ihren Enkeln gehabt hatte, und sagte: »Da war sie bestimmt sehr glücklich.«
    Niccolini lächelte zum ersten Mal an diesem Tag und wirkte plötzlich viel jünger. »Ja. Das war sie.«
    Der Kellner kam und stellte die tramezzini vor sie hin.
    »Schon seltsam«, sagte Niccolini und griff nach seinem Glas; die Sandwichs beachtete er nicht. »Sie hat ihr ganzes Leben mit Kindern verbracht, erst als Lehrerin, dann mit mir und meiner Schwester, dann wieder mit anderen Kindern, als wir beide zur Schule gingen und sie in den Lehrerberuf zurückkehrte.« Er nippte an seinem Wein, nahm ein Sandwich vom Teller, sah es lange an und legte es wieder zurück.
    Brunetti biss in sein erstes Sandwich und fragte dann: »Was ist seltsam, Dottore?«
    »Dass sie nach ihrer Pensionierung nicht mehr mit Kindern gearbeitet hat.«
    »Sondern?«, fragte Brunetti.
    Niccolini sah ihm forschend ins Gesicht, ehe er langsam, als suche er nach den richtigen Worten, die Gegenfrage stellte: »Warum wollen Sie das alles wissen?«
    Brunetti nahm noch einen Schluck Wein. »Frauen aus der Generation meiner Mutter interessieren mich.« Er kam einem möglichen Einwand Niccolinis zuvor: »Generation nicht zu eng gefasst.« Er stellte sein Glas ab und fuhr fort: »Meine Mutter hat nicht gearbeitet. Sie ist zu Hause geblieben und hat sich um uns Kinder gekümmert, aber vor Jahren hat sie [73]  mir einmal erzählt, eigentlich wäre sie am liebsten Lehrerin geworden. Doch ihre Familie war arm, daher musste sie schon mit vierzehn arbeiten gehen. Als Dienstmädchen«, sagte Brunetti heftig, ungeachtet all der Jahre, in denen er diese schlichte Tatsache verleugnet und sich gewünscht hatte, seine Eltern wären anders gewesen, wohlhabender, kultivierter. »Deshalb interessieren mich Frauen, die tun konnten, was meine Mutter hatte tun wollen. Was sie aus der Chance gemacht haben.«
    Als seien damit seine Zweifel an der Zulässigkeit von Brunettis Fragen ausgeräumt, erklärte Niccolini: »Sie fing an, mit alten Leuten zu arbeiten. Oder besser: mit älteren Leuten. Tatsächlich hat sie«, sagte er und machte eine Kopfbewegung in die Richtung, »dort angefangen.« Jeder in Venedig hätte gewusst, dass er das nur hundert Meter entfernte Pflegeheim, die casa di cura , meinte.
    »Wie angefangen?«, fragte Brunetti. »Was hat sie dort getan?«
    »Sie hat die Leute besucht. Ihnen zugehört. Hat sie bei schönem Wetter hier auf den campo gebracht.« Auch dies ein Anblick, mit dem jedermann in der Stadt vertraut war: verhutzelte alte Leute, die zu jeder Jahreszeit mit einer Decke über Schultern und Knien im Rollstuhl von Freunden oder Verwandten - oder in letzter Zeit zunehmend von Frauen osteuropäischen Aussehens - auf den campo geschoben wurden, damit sie wenigstens einen Teil dessen, was ihnen noch vom

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