Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe
hat.«
»Davon hätte ich dir nichts sagen sollen.«
»Dann tu so, als hättest du nicht gehört, dass ich weiß, wo du die herhast.«
Vielleicht kam er doch nicht so glimpflich davon. »Ich musste mit dem Sohn der Frau reden, die letzte Nacht gestorben ist.«
»In der Zeitung heute Morgen stand nichts davon, erst in der Online-Ausgabe.«
Brunetti fühlte sich im Internet nicht zu Hause, er las die Zeitung immer noch lieber in Papierform; dass eine Zeitung [78] wie der Gazzettino jetzt im Cyberspace existierte, bereitete ihm großes Unbehagen. »Was soll aus Menschen werden, die vierundzwanzig Stunden am Tag dem Gazzettino ausgesetzt sind?«, fragte er.
Paola, die zu diesem Thema eine gemäßigtere Einstellung hatte, sagte: »Immerhin ist es Giftmüll, den wir nicht nach Afrika verfrachten.«
»So habe ich das noch nicht gesehen. Insofern kann ich beruhigt sein«, sagte Brunetti. Trotzdem interessierte ihn, wie die Sache dargestellt wurde. »Was schreiben sie denn?«, fragte er.
»Dass sie von einer Nachbarin in ihrer Wohnung gefunden wurde. Todesursache offensichtlich ein Herzversagen.«
»Gut.«
»Heißt das, dem ist nicht so?«
»Rizzardi will sich noch weniger festlegen als sonst. Ich vermute, er hat etwas entdeckt, das er dem Sohn der Frau nicht sagen wollte.«
»Wie ist er, der Sohn?«
»Der scheint in Ordnung zu sein«, schilderte Brunetti seinen ersten Eindruck. »Allerdings wirkte er ein wenig zu erleichtert, dass die Polizei kein Interesse am Tod seiner Mutter zeigt.«
»Und du hast auch keins gezeigt?«, fragte sie.
»Nein. Er wirkte beunruhigt, dass ich mit ihm sprechen wollte, also habe ich das als bloße Formalität abgetan, weil der Anruf bei uns eingegangen war.«
»Warum sollte er nervös sein? Er kann unmöglich etwas damit zu tun haben.« Ihre kategorische Feststellung erinnerte Brunetti daran, dass auch er diese Möglichkeit a priori ausgeschlossen [79] hatte. Wenn es um Mord ging, hatte die Welt eine Fülle von Möglichkeiten zu bieten; Mord unter Ehegatten war so verbreitet, dass man kaum noch mitkam, Partner und Expartner beharkten sich bis aufs Blut; die Frauen, die in den letzten Jahren ihre Kinder umgebracht hatten, konnte er gar nicht mehr zählen. Aber dass ein Mann seine Mutter töten konnte, das wollte ihm nicht in den Kopf.
Paola wartete schweigend, während er diesen Gedanken nachhing. Schließlich gab er zu: »Das könnte genauso gut gar nichts zu bedeuten haben. Immerhin hat er einen schweren Schock erlebt, und nachdem ich mit ihm gesprochen hatte, musste er noch mal ins Krankenhaus, um sie zu identifizieren.«
»Oddio«, rief sie. »Konnten sie dafür nicht jemand anderen nehmen?«
»Das muss ein Angehöriger machen«, sagte Brunetti.
Beide schwiegen, bis er schließlich das Thema wechselte. »Heute Abend komme ich wohl pünktlich nach Hause.«
»Gut.« Sie legte auf.
Der günstigste Weg zum Pflegeheim führte an der Questura vorbei: Der Stadtplan in seinem Kopf bot noch andere Strecken an, aber die waren alle länger. Unterwegs könnte er Vianello abholen und ihm von Niccolini erzählen und dass dessen Anwesenheit Rizzardi davon abgehalten hatte, in die Einzelheiten zu gehen, was die Obduktion anbelangte.
Er nahm sein telefonino, wählte Vianellos Nummer und sagte ihm, wo er war und dass er ihn in etwa fünf Minuten abholen werde. Die Sonne hatte den Zenit überschritten, und in der ersten calle, in die er sich wandte, ließ die Wärme des Tages bereits spürbar nach.
[80] Am Rio della Tetta besserte sich Brunettis Stimmung wie jedes Mal, wenn er dort entlangging und sich am schönsten Straßenpflaster von ganz Venedig erfreuen konnte: Zwischen rosa und elfenbein schimmernde, bis zu zwei Meter lange und einen Meter breite Steinplatten vermittelten eine Vorstellung davon, wie luxuriös man in den besten Zeiten der Stadt gelebt hatte. Der Palazzo auf der anderen Seite des Kanals hingegen lieferte den Beweis, dass diese Zeiten endgültig vorbei waren. Er stand unverkennbar leer: Von den Fensterläden schälte sich die in der Sonne blasig gewordene Farbe; aus Pflanzschalen in rostigen Halterungen ragten verdorrte Blumenstrünke; die porte d’acqua hingen schief in ihren verrotteten Angeln, bemooste Stufen führten in höhlenartige Räume, die höchstens noch von Ratten betreten wurden. Für Brunetti zeigte sich an solchen Gebäuden der langsame Verfall der Stadt, während ein Investor sie als verlockende Perspektive betrachtete: ein Atelier für
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