Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe
Borreliose übertrugen.
Der Mann stand wieder von ihm abgewandt, und Brunetti fielen nur Banalitäten ein. »Ich möchte Ihnen mein Mitgefühl aussprechen, Dottore«, sagte er, bevor ihm einfiel, dass er das bereits getan hatte.
Niccolini antwortete nicht sofort, er drehte sich auch nicht [60] um. Schließlich sagte er leise und mit gequälter Stimme: »Ich habe selbst schon Obduktionen durchgeführt.«
Brunetti schwieg. Der andere zog ein Taschentuch aus der Hosentasche, fuhr sich damit übers Gesicht und putzte sich die Nase. Als er sich kurz umdrehte, schien er irgendwie gealtert. »Die wollen mir nichts sagen - weder wie sie gestorben ist, noch warum eine Autopsie vorgenommen wird. Ich kann nur hier herumstehen, allein mit meinen Gedanken.« Er verzog den Mund zu einer schmerzlichen Grimasse, und Brunetti fürchtete schon, der Arzt werde in Tränen ausbrechen.
Da ihm keine passende Erwiderung einfiel, ließ Brunetti ein wenig Zeit verstreichen, näherte sich und legte Niccolini eine Hand auf den Arm. Der Mann versteifte sich, als könnte der Berührung ein harter Schlag folgen. Sein Kopf fuhr herum, und er starrte Brunetti an wie ein verängstigtes Tier. »Kommen Sie, Dottore«, sagte Brunetti beschwichtigend. »Vielleicht sollten Sie sich hinsetzen.«
Der andere gab seinen Widerstand auf und ließ sich zu einem der Plastikstühle führen. Brunetti ließ seinen Arm los und wartete, bis der Arzt sich gesetzt hatte. Dann zog er sich selbst einen Stuhl heran und nahm neben ihm Platz.
»Die Nachbarin, die über Ihrer Mutter wohnt, hat uns letzte Nacht angerufen«, begann er.
Niccolini schien einige Zeit zu brauchen, ehe er Brunetti verstanden hatte, und sagte dann nur: »Sie hat mich heute früh benachrichtigt. Deswegen bin ich hier.«
»Was hat sie Ihnen gesagt?«, fragte Brunetti.
Niccolini zerrte an seinen Fingern, er schien das kaum zu merken. Es gab ein seltsam lautes Knacken. »Dass sie nach [61] unten gegangen ist, um mamma zu sagen, sie sei wieder da, und um ihre Post zu holen. Und als sie in die Wohnung ging, hat sie ... sie gefunden.«
Er räusperte sich, nahm plötzlich die Hände auseinander und schob sie wie ein Schuljunge während einer schwierigen Prüfung unter seine Oberschenkel. »Auf dem Fußboden. Sie sagte, sie habe gleich gesehen, dass sie tot war.«
Er holte tief Luft, starrte rechts an Brunetti vorbei und fuhr fort: »Sie sagte, als alles vorbei war und man sie weggebracht hatte - meine Mutter -, habe sie beschlossen, mit dem Anruf bei mir noch zu warten. Bis zum Morgen. Und dann hat sie es getan.«
»Verstehe.«
Der andere schüttelte den Kopf, als hätte Brunetti ihn etwas gefragt. »Sie sagte, ich soll mich bei Ihnen melden - bei der Polizei. Und als ich das tat, sagte man mir - einer von Ihnen - jemand in der Questura -, wenn ich was wissen wolle, müsse ich im Krankenhaus anrufen.« Er zog die Hände wieder hervor und faltete sie im Schoß, wo sie reglos liegen blieben. »Also habe ich hier angerufen. Aber die wollten mir keine Auskunft geben. Die haben mir nur gesagt, ich solle hier vorstellig werden.« Dann sagte er noch: »Deshalb war ich so erstaunt, als Sie mich angerufen haben.«
Brunetti nickte verständnisvoll, fand es aber bemerkenswert, wie sehr Niccolini darauf bedacht war, die Polizei aus der Sache herauszuhalten. Aber wer wäre das nicht? Brunetti versuchte, seinen Argwohn und den Gedanken an eine Bürokratie abzuschütteln, die es fertigbrachte, diesen Mann zu dieser Zeit an diesen Ort zu bestellen. »Ich bitte für diesen Kompetenzwirrwarr um Entschuldigung, Dottore«, sagte [62] er. »In dieser Situation muss das doppelt schmerzlich für Sie sein.«
Jetzt schwiegen sie beide. Niccolini wandte sich wieder seinen Händen zu, und Brunetti kam zu dem Schluss, dass er jetzt besser gar nichts mehr sagte. Die Umstände, der Ort, das Unaussprechliche im Raum nebenan - das alles war bedrückend und versiegelte ihnen die Lippen.
Brunetti hatte zwar nicht auf die Uhr gesehen, aber allzu lange mussten sie nicht warten, bis Rizzardi, nicht im Laborkittel, sondern in Anzug und Krawatte, in der Tür erschien. »Ah, Guido«, sagte er, als er Brunetti sah. »Ich wollte ...«, fing er an, bemerkte dann aber den anderen und begriff, wie Brunetti an seiner Miene ablesen konnte, dass es sich um einen Angehörigen der Frau handeln musste, die er soeben obduziert hatte. Übergangslos wandte er sich ihm zu und sagte: »Ich bin Ettore Rizzardi, medico legale .« Er ging hin
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