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Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe

Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe

Titel: Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
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wahr?«
    »Irgendwie schon«, antwortete Vianello widerstrebend. Sie gingen schweigend weiter, und schließlich bemerkte er: »Heute ist es auch nicht viel anders, oder?«
    »Dass man nie weiß, woran man ist?«, fragte Brunetti.
    »Dass die Leute etwas dazuerfinden und man schon nach kurzer Zeit nicht mehr weiß, was wahr ist und was nicht.«
    Sie gelangten auf den von der Sonne beschienenen campo, und das Licht hob ihre Stimmung. Die Bäume waren noch belaubt, auf den Bänken darunter saßen Leute, und der freie Ausblick tat ihren Augen gut.
    Schweigend überquerten sie den Platz. Brunetti konnte sich an die genaue Adresse des Hauses nicht mehr erinnern, er wusste nur noch, dass es rechts von der Kirche war. Er blieb vor dem ersten Klingelschild stehen, aber da standen nur Familiennamen. Neben der zweiten Tür war eine Tafel angebracht: »Sacra Famiglia«. Er läutete.
    Es dauerte eine Weile, ehe eine Frauenstimme, alt und zittrig, nach dem Namen des Besuchers fragte. »Brunetti«, sagte er, »ich bin ein Freund von Signora Altavilla ...« Er fand, er sollte es mit dem Lügen nicht zu weit treiben, und korrigierte sich: »Von ihrem Sohn.«
    [84]  »Die ist nicht da«, kam es zurück; es klang ziemlich gereizt, aber das konnte auch an der Sprechanlage liegen. »Die ist heute nicht gekommen.«
    »Das ist mir bekannt, Suora«, sagte Brunetti. »Ich möchte mit der Oberin sprechen.«
    Die Stimme sagte etwas, das weder er noch Vianello hören konnten, dann klickte die Tür auf. Sie traten in eine große Eingangshalle, deren Boden mit dem für Häuser aus dieser Epoche so typischen orangeweißen Schachbrettmuster ausgelegt war. Durch das Gitterwerk einer Fensterreihe im Hintergrund drang nur trübes Dämmerlicht in den Raum. Sie ließen den Aufzug links liegen und nahmen die Treppe. An der einzigen Tür im ersten Stock erblickten sie eine kleine alte Frau: Ihre Tracht zeugte von ihrem Gelübde, noch bevor ihre Haltung ihr Alter verriet.
    Sie grüßte die Männer mit einem Nicken und streckte ihnen die Hand entgegen. Beide mussten sich bücken, als gäben sie einem Kind die Hand: Die Frau reichte ihnen kaum bis zur Brust und legte den Kopf nach hinten, um ihnen ins Gesicht zu sehen. »Ich bin Madre Rosa«, sagte sie, »die Oberin. Suora Grazia sagte, Sie wollen mich sprechen.« Sie trat einen Schritt zurück, um sie besser betrachten zu können. »Ich muss sagen, Ihr Anblick gefällt mir nicht.«
    Ihre Miene blieb ausdruckslos, während sie das sagte, doch ihr Akzent verriet überdeutlich, dass sie aus einer Gegend sehr weit südlich von Venedig stammte.
    Da es für Brunetti zu den besonderen Kennzeichen der Süditaliener gehörte, dass sie - selbst die Kinder - jeden Polizisten schon von weitem erkannten, fragte er lächelnd: [85]  »Weil wir Männer sind oder weil wir groß sind oder weil wir Polizisten sind?«
    Sie trat noch einen Schritt weiter von der Schwelle zurück, bat sie einzutreten und schloss die Tür hinter ihnen: »Ich weiß bereits, dass Costanza gestorben ist; wenn also ein Polizist hier auftaucht und sich als Freund von ihr ausgibt, lügt er, um an Informationen heranzukommen. Deswegen gefällt mir Ihr Anblick nicht. Wie groß Sie sind, ist mir egal.«
    Plötzlich überkam Brunetti Mitgefühl für all die Leute, die er bei Befragungen ausgetrickst hatte, und er empfand Bewunderung für diese Frau, die nicht nur seinen Versuch als Kinderei entlarvte, sondern ihm das auch noch offen ins Gesicht sagte. »Mit dem Sohn bin ich nicht wirklich befreundet, Madre«, gestand er. »Aber ich habe vorhin mit ihm gesprochen, und er hat mich gebeten, Ihnen zu sagen, was passiert ist.«
    Ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen, drehte die Nonne sich um und führte sie in einen mit Möbeln vollgestellten Raum, der früher einmal das Wohnzimmer einer Privatwohnung gewesen sein musste. Von hinten wirkte sie noch kleiner; Brunetti fiel auf, dass sie beim Gehen ihr rechtes Bein schonte. Die Sofas und Sessel waren mit dickem braunem Samt bezogen und hatten Löwentatzen als Füße, denen bei genauerem Hinsehen viele Zehen fehlten; die Rückenpolster waren fleckig, die Armlehnen abgewetzt und an einigen Stellen aufgeplatzt. Ähnlich schäbig wirkte der riesige Kaschan, der den gesamten Fußboden bedeckte.
    Die Nonne zeigte auf zwei Sessel und nahm ihnen gegenüber auf einem Holzstuhl Platz, wobei sie ihr rechtes Bein [86]  sorgsam gerade hielt. Die Sessel waren so durchgesessen, dass die beiden Polizisten mit der Nonne

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