Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe
ganzen Vormittag mit ihnen unten am Kanal, sah den Booten zu und ließ sich erzählen, oder sie saß hier im Haus bei ihnen im Zimmer und hörte ihnen zu. Stundenlang, ohne dass ihre Aufmerksamkeit jemals erlahmte. Sie stellte Fragen, sie erinnerte sich, was man ihr bei [89] früheren Besuchen erzählt hatte.« Wie Brunetti vorhin wies sie in die Runde. »Das gibt ihnen das Gefühl, wichtig zu sein, dass sie etwas Interessantes zu berichten haben und jemand sich daran erinnern wird.« Brunetti fragte sich, ob sie selbst sich auch zu denen zählte, die anderen zuhören und sich an deren Geschichten erinnern konnten, oder ob sie sich wichtig vorkäme, wenn jemand sich an ihre Erzählungen erinnerte.
»War sie zu allen gleich freundlich?«, fragte Brunetti.
Auf diese Frage reagierte die Oberin sichtlich gereizt, sei es, dass sie nicht viel von Freundschaften mit alten Leuten hielt, sei es, dass sie überhaupt etwas gegen Freundschaften hatte. »Selbstverständlich«, sagte sie; Brunetti entging nicht, wie ihre Faust sich um den Rosenkranz krampfte: kein Spielen mit den Perlen mehr.
»Keine besonderen Freunde?«, erkundigte er sich.
»Nein«, sagte sie hastig. »Patienten hat man nicht als Freunde. Sie wusste, das konnte gefährlich sein.«
»Wieso gefährlich?«, fragte Vianello.
»Viele von ihnen sind einsam«, sagte sie. »Und viele von ihnen haben Familien, die nur auf den Tod ihrer Angehörigen warten, um Geld und Häuser zu erben.« Sie hielt kurz inne, als wollte sie feststellen, ob die beiden auf so deutliche Worte einer Nonne schockiert reagieren würden. Doch als Schweigen die einzige Antwort war, fuhr sie fort: »Man muss sich folglich davor hüten, allzu enge Bande zu knüpfen. Costanza ...«, fing sie an, sprach aber nicht aus, was sie hatte sagen wollen. Stattdessen kam sie auf ihr ursprüngliches Thema zurück. »Alte Leute können sehr schwierig sein.«
»Ich weiß«, stimmte Brunetti zu, ohne auch nur anzudeuten, [90] wo er das gelernt hatte. »Aber ich fürchte - und ich sage das mit allem Respekt -, damit sind wir auch nicht viel weiter.«
Madre Rosa machte ein gequältes Gesicht. »Ich sollte das nicht sagen, Signore, und ich hoffe, der Herr wird mir solche Gedanken verzeihen, aber wenn Sie wüssten, wie schwierig manche der Leute hier sein können, würden Sie meine Reden nachfühlen können. Es ist ein Leichtes, freundlich zu Leuten zu sein, die das erwidern oder die empfänglich für Freundlichkeit sind, aber das ist leider nicht immer der Fall.« Die Stimme der Nonne klang schicksalsergeben, wie bei jemand, der aus langer Erfahrung spricht. Brunetti merkte, dass aus ihr nichts herauszuholen war.
Er und Vianello verständigten sich mit einem Blick und erhoben sich fast gleichzeitig. In gewisser Hinsicht sortierten sich auch Brunettis Gedanken. Sie waren eigens hierhergekommen, und diese Frau hatte sich lediglich über Signora Altavillas Geduld ausgelassen, und selbst das nur widerstrebend. Im Übrigen hatten sie über Signora Altavilla so gut wie nichts erfahren, was ihnen weiterhelfen konnte - aber Friede ihrer Asche. »Ich danke Ihnen, Madre«, sagte Brunetti und schwankte, ob er ihr die Hand geben sollte oder nicht. Sie nahm ihm die Entscheidung ab, indem sie die Hände unter ihrem Skapulier behielt und erst in seine, dann in Vianellos Richtung ein Nicken andeutete; dann wandte sie sich ab und führte sie zur Tür.
Dort blieb sie stehen und sagte: »Bitte richten Sie Signora Altavillas Sohn mein Beileid aus. Ich habe ihn nie persönlich kennengelernt, aber Costanza hat von ihm erzählt [91] - immer nur Gutes.« Wie zur Antwort auf eine unausgesprochene Frage der beiden fügte sie hinzu: »Mir scheint, er hat ihre schreckliche Ehrlichkeit geerbt.«
»Wie meinen Sie das, Madre?«, fragte Brunetti.
Sie ließ sich mit der Antwort so viel Zeit, dass sie ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagern musste. Schließlich formulierte sie ihre Antwort als Gegenfrage: »Sie hören doch, dass ich aus dem Süden bin, nicht wahr?«
Beide nickten.
»Wir haben von Ehrlichkeit gelinde gesagt andere Vorstellungen als Sie hier oben.«
Vianello lächelte. »Das kann man wohl sagen, Madre.«
Gelassen erwiderte sie sein Lächeln und fuhr zu ihm gewandt fort. »Was nicht heißen will, dass wir Ehrlichkeit nicht genauso sehr achten wie Sie, Signori.«
Die beiden Männer warteten gespannt, wohin das führen mochte. »Aber wir sind ...« Sie unterbrach sich und sah von einem zum anderen.
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