Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe
»Wie soll ich sagen? Wir gehen sparsamer mit ihr um.«
Neugierig geworden, fragte Brunetti: »Und wie kommt das, Madre?«
Sie machte unbeholfen einen Schritt zurück, um ihnen in die Augen sehen zu können. »Vielleicht, weil der Preis der Wahrheit für uns höher ist«, sagte sie. Ihr Akzent war jetzt wieder deutlich zu hören. »Deshalb halten wir auch viel auf Verschwiegenheit.«
»Spielen Sie auf Signora Altavilla an?«, fragte Brunetti.
»Ja. Sie war der Überzeugung, man solle immer die Wahrheit sagen, egal um welchen Preis. Und ihren Sohn hat sie offenbar auch in diesem Sinn erzogen.«
[92] »Halten Sie das für einen Fehler?«, fragte Brunetti verblüfft.
»Nein, meine Herren«, sagte sie mit einem knappen Lächeln. »Für Luxus.«
Und damit öffnete sie den Ausgang. Die beiden hörten die Tür hinter sich ins Schloss fallen, während sie die Treppe hinuntergingen.
[93] 9
A ls sie in die Sonne hinauskamen, meinte Vianello: »Ich weiß in solchen Situationen nie, wie ich mich verhalten soll.«
»In was für Situationen?«, fragte Brunetti, während sie über den campo zurück zur Questura aufbrachen.
»Wenn jemand sich unwissender stellt, als er ist.«
Brunetti wandte sich nach links, Richtung Kirche. »Hmmm«, stimmte er Vianello brummend zu.
»Dieses Gerede über Ehrlichkeit«, sagte Vianello. Er blieb auf der Brücke stehen und legte die Unterarme aufs Geländer. Unten lag ein Boot am Kanal vertäut. »Sie weiß - oder denkt sich - eindeutig mehr, als sie uns sagen will. Als Nonne hält sie es wahrscheinlich für unrecht, unbegründete Verdächtigungen zu äußern oder Gerüchte weiterzugeben.« Leiser fügte er hinzu: »Obwohl ich mir kein Kloster ohne Tratsch vorstellen kann.«
Brunetti ließ das unkommentiert.
»Sie ist aus dem Süden«, fuhr Vianello fort. »Und Nonne.« Brunetti wartete gespannt, was jetzt für ein Vorurteil kommen würde. »Das heißt also, sie wollte uns etwas wissen lassen oder auf eine Vermutung bringen, konnte sich aber nicht überwinden, es uns direkt zu sagen.«
Brunetti sah das auch so. Wer wusste schon, was im Kopf einer Nonne vorging, erst recht, wenn sie aus dem Süden kam? Den Leuten dort war Verschwiegenheit in Fleisch und Blut übergegangen, sie bekamen die Konsequenzen einer unbedachten [94] Äußerung von Kindesbeinen an mit. Er erinnerte sich an das kürzlich aufgetauchte Schockvideo von einem alltäglichen, bei helllichtem Tag ausgeführten Mord in Neapel: ein Schuss, ein zweiter, in den Hinterkopf, während ringsum die Leute weiter ihren Geschäften nachgingen. Niemand hatte etwas gesehen; niemand hatte etwas bemerkt.
Das war ihnen tief eingeprägt: Wer zu viel redete oder sich verplapperte, brachte nicht nur sich selbst, sondern die ganze Familie in Gefahr. Das war und blieb ihre Wahrheit, auch nach noch so vielen Jahren in einem Kloster in Venedig. Eher würde Brunetti auf Engelsflügeln ins Paradies entschweben, als dass Madre Rosa offen mit der Polizei redete.
»Bei ihr hört sich Wahrheit wie etwas Störendes an, oder?« Vianello stieß sich vom Geländer ab, hob die Arme und ließ sie ratlos wieder sinken. Doch bevor Brunetti etwas sagen konnte, klingelte sein Handy.
»Guido? Ich bin’s«, sagte Rizzardi.
»Danke, dass du anrufst.«
Rizzardi kam ohne Umschweife zur Sache: »Der Abdruck«, fing er an. Als Brunetti nichts sagte, fuhr er fort: »Könnte von einem Daumen stammen.«
Brunetti versuchte, sich vorzustellen, wo die anderen Finger gewesen sein könnten, als die Daumen an ihrem Hals waren, gestattete sich aber nur ein »Aha«. Und dann: »›Könnte‹?«
Rizzardi ging über die Provokation hinweg. »Es gibt auch drei schwache Druckstellen, hinten an ihrer linken Schulter, und zwei an der rechten. Und vorne - kaum sichtbar - noch eine.«
Brunetti klemmte das telefonino zwischen Kopf und Schulter, so dass er beide Hände frei hatte und sich den Würgegriff [95] anschaulich vor Augen führen konnte. »Sind die Abdrücke an den richtigen Stellen?«, fragte er in der Gewissheit, sich Rizzardi gegenüber nicht deutlicher äußern zu müssen.
»Allerdings«, antwortete der Pathologe. »Kein Widerspruch zu der Annahme, dass man sie von vorne gewürgt hat.«
»›Kein Widerspruch‹«, fragte Brunetti.
Rizzardi ging darüber hinweg. »Erinnerst du dich an die Strickjacke, die sie anhatte?«
»Ja«, antwortete Brunetti.
»Die könnte den Druck abgeschwächt haben, was erklären würde, warum die Abdrücke so undeutlich
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