Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe
Spurensicherung, keine Fotos von Signora Altavilla, keine Fotos und kein Inventarverzeichnis der Wohnung. Er nahm an seinem Schreibtisch Platz und rief sich ihre Wohnung ins Gedächtnis, versuchte, aus der Einrichtung auf ihr Leben zu schließen.
Die Wohnung und die Dinge darin gaben keinen Hinweis auf ihre finanzielle Lage. Vor Jahrzehnten hätte allein schon die Adresse jeden Zweifel ausräumen können. San Marco und die Palazzi am Canal Grande bedeuteten Wohlstand, Castello hingegen Armut. Inzwischen aber waren ungeheure Geldmengen in die Stadt geflossen, so dass sich hinter jedem Gebäude und jeder Adresse ein frisch renoviertes Luxusdomizil verbergen konnte, während die früheren Eigentümer oder Mieter dorthin zurückkehrten, wo ihre Vorväter hergekommen waren, aufs Festland zogen und die Stadt denen überließen, die sie sich leisten konnten.
Brunetti ließ die einzelnen Zimmer Revue passieren. Das Mobiliar war von guter Qualität, aus einer Epoche zwischen alt und uralt. Nur wenige Bücher, kaum Dekoration: keine Bilder an den Wänden, soweit er sich erinnerte. Alles sprach von einem schlichten, entsagungsvollen Leben. Am stärksten hatte sich ihm die Anordnung von Sofa und Tisch eingeprägt: Wieso versagte sich jemand die Aussicht auf die Kirche und die Berge? Und nicht nur sich selbst, sondern auch irgendwelchen Besuchern, die in die Wohnung kamen? [100] Natürlich wusste er, dass nicht jeder einen Sinn für Schönheit besaß, aber dass jemand lieber in dieses langweilige Zimmer schaute als auf die Schönheiten der Stadt und der Natur, kam Brunetti unsinnig vor und rückte in seinen Augen einen Menschen, der sich so verhielt, in ein ungünstiges Licht.
Was war mit den ungeöffneten Päckchen billiger Unterwäsche in der Kommode im Gästezimmer? Eine Frau, die Kaschmirpullover von der Qualität trug, wie er sie in ihren Schubladen gefunden hatte, würde, ganz gleich, wie alt sie war, niemals solche Baumwollunterwäsche tragen, oder aber seine Vorstellungen von Frauen waren noch falscher, als er gelegentlich von Paola zu hören bekam.
Und warum drei verschiedene Größen? Niccolinis Tochter war sicher noch zu klein, selbst für die kleinste Größe, falls sie ihre Großmutter überhaupt besuchte; außerdem achteten Eltern gewöhnlich darauf, ihren Kindern ausreichend Kleider mitzugeben, wenn sie woanders übernachteten. Möglich, dass Freundinnen zu Besuch kamen oder ihre Töchter für eine Zeit nach Venedig schickten. Und die ungeöffneten Toilettenartikel im Bad? Niemand bereitete sich mit solcher Gründlichkeit auf unerwartete Besuche vor. Schließlich war das ihre Wohnung, und kein Hotel oder Fremdenheim.
Er verließ seinen Schreibtisch und ging nach unten. Im Lauf der Jahre hatte er mit Signorina Elettra über viele Dinge gesprochen, aber noch nie über Damenunterwäsche. Als er eintrat, stand sie mit verschränkten Armen am Fenster und betrachtete dieselbe Aussicht, die sich auch ihm vor seinen Fenstern bot: Die Fassade von San Lorenzo auf der anderen Seite des Kanals machte von einem Stockwerk tiefer aus gesehen keinen weniger verfallenen Eindruck.
[101] Sie drehte sich lächelnd um. »Kann ich Ihnen helfen, Commissario?«
»Vielleicht«, sagte Brunetti und ging zu ihrem Schreibtisch. Er lehnte sich daran und schlug die Beine übereinander. Licht strömte durchs Fenster, nicht nur von der Sonne, sondern auch von deren Spiegelbild im Wasser des Kanals. Davor Signorina Elettra im Profil - ihre Züge wirkten nicht so deutlich konturiert wie sonst, ihr Kinn weniger scharf geschnitten, die Haut über ihren Wangenknochen weniger straff. Ja, um ihre Augen bemerkte er winzige Fältchen. Er wandte den Blick ab und sah nach der Kirche.
»Können Sie sich denken, wozu jemand im Gästezimmer seiner Wohnung ungeöffnete Päckchen mit Damenunterwäsche aufbewahrt, aber in drei verschiedenen Größen?« Sie sah ihn an und runzelte befremdet die Stirn. »Und Strumpfhosen und Pullover, auch in verschiedenen Größen.« Er bedachte, mit wem er sprach und dass dieses Detail von Bedeutung sein konnte: »Alles aus schlichter Baumwolle, Sachen, wie man sie im Supermarkt kauft.«
Sie ließ die Arme sinken, hob das Kinn und richtete den Blick auf die Kirchenfassade. »Sprechen wir von einer Männerwohnung oder von der, in die Sie letzte Nacht gerufen wurden?«
»Wir haben diese Sachen in Signora Altavillas Wohnung gefunden, ja«, antwortete er. »Warum fragen Sie?«
Sie sah weiter nach der Kirche, als suche
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