Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe
sind.«
»Könnte es auch etwas anderes sein?«, fragte Brunetti, dem Rizzardis Vorsicht wie etwas Angeborenes vorkam, das der Pathologe niemals loswerden würde.
»Ein cleverer Verteidiger könnte es so drehen«, begann Rizzardi über ein mögliches Gerichtsverfahren zu spekulieren, und Brunetti erkannte schon an seiner Ausdrucksweise, wie sehr er in diesem Fall von einem Gewaltverbrechen überzeugt war, auch wenn er das niemals offen aussprechen würde, »dass die Abdrücke auf ihrem Rücken entstanden sein könnten, als sie gegen die Heizung gefallen ist, oder weil sie sich allzu kräftig den Rücken massiert hat oder weil sie beim Betreten ihrer Wohnung das Gleichgewicht verloren hat und gegen die Tür gefallen ist.«
Brunetti unterbrach ihn. »Ettore, erzähl mir nicht, was sein könnte. Ich brauche Fakten.«
Rizzardi fuhr fort, als hätte Brunetti nichts gesagt: »Ich kenne Anwälte, und du kennst Anwälte, die behaupten würden, dass sie fünfmal hintereinander gegen die Tür gefallen ist, Guido.«
[96] Jetzt riss Brunetti der Geduldsfaden. »Was alles passiert sein könnte, kann ich mir selber ausdenken«, schimpfte er. »Herrgott, sag mir einfach, was passiert ist.« Rizzardi schwieg, und Brunetti dachte schon, er sei vielleicht zu weit gegangen. So durfte man Rizzardi nicht kommen.
»Jemand hat sie von vorne gepackt und vermutlich geschüttelt«, gab Rizzardi überraschend klar Auskunft. Kein Zaudern, kein rhetorischer Selbstschutz, kein Hin und Her. Wann war der Pathologe je so deutlich geworden?
»Warum sagst du das?«
»Da ist noch etwas.«
»Was?«
»Eine kaum sichtbare Verletzung an ihrem dritten und vierten Halswirbel. Und Blutungen in den Muskeln und an den Bändern.«
Brunetti fragte nicht nach, Rizzardi sollte von selbst mit der Sprache rausrücken.
»Also könnte jemand sie geschüttelt haben.«
»Oder?«
»Oder es ist bei dem Sturz passiert. Sie hat sich schwer am Kopf gestoßen, als sie gegen den Radiator gefallen ist. Das habe ich letzte Nacht gesehen.«
»Oder sie wurde gestoßen«, sagte Brunetti.
»Das kann ich nicht mit Sicherheit sagen«, erklärte Rizzardi.
Brunetti hatte den Eindruck, Rizzardis Vorrat an Offenheit sei aufgebraucht.
Eins stand für den Pathologen aber fest: »Todesursache war ein Herzversagen, daran ist nicht zu rütteln.« Da Brunetti nichts dazu sagte, fuhr er fort: »Ihr Herz war in schlechtem [97] Zustand, ein Schock hätte ohne weiteres ihren Tod bedeuten können.«
Brunetti spürte förmlich, wie Vianello neben ihm vor Neugier kaum noch an sich halten konnte.
»Haben deine Leute Propafenon in ihrer Wohnung gefunden?«, fragte Rizzardi.
Brunetti hatte den schriftlichen Untersuchungsbericht noch nicht gesehen, daher wich er der Antwort aus und fragte: »Was ist das?«
»Ein Mittel gegen Herzrhythmusstörungen; sie starb durch einen Herzanfall. Ein Schock begünstigt dies.«
Wenn man ein Haus niederbrennt und nicht weiß, dass jemand drin ist - ist man dann ein Mörder? Wenn man einen Diabetiker entführt und ihm kein Insulin gibt - ist man dann für seinen Tod verantwortlich? Und wenn man einer Herzkranken einen Schrecken einjagt? Rizzardi hatte recht, das war für jeden Verteidiger ein gefundenes Fressen.
»Ich überprüfe das. Die haben bestimmt alles erfasst«, sagte Brunetti, obwohl man sich da nie sicher sein konnte. »Noch etwas?«
»Nein. Bis auf ihr Herz war sie für eine Frau Mitte sechzig ziemlich gesund.« Rizzardi dachte lange nach. »Aber das Herz war eine tickende Zeitbombe, also spielte es eigentlich keine Rolle, wie gesund sie war.« Brunetti hörte ein Klicken, der Pathologe hatte aufgelegt.
Er schaltete sein Handy aus und steckte es in die Tasche. Dann sagte er zu Vianello: »Sie ist an plötzlichem Herzversagen gestorben. Aber er hat Hinweise darauf entdeckt, dass jemand sie geschüttelt haben könnte. Das könnte der Auslöser gewesen sein.«
[98] Vianello sah ihn anerkennend an. »Du hast Rizzardi dazu gebracht, das zu sagen?«
Brunetti ging darüber hinweg. »Also sollten wir uns genauer mit ihrem Leben beschäftigen.«
Vianello meinte aufgebracht: »Sie scheint doch ein anständiger Mensch gewesen zu sein, keine, die man bedrohen oder schütteln würde. Oder töten. Gute Menschen sollten nicht so zu Tode kommen.«
Brunetti ließ das auf sich wirken und sagte schließlich: »Schön wär’s.«
[99] 10
A ls Brunetti in sein Büro kam, war dort noch nichts eingetroffen. Das heißt: kein Bericht der
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