Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe
ruhiger fort: »Das konnten doch nur Prostituierte sein, oder? Diese Alessandra oder Alexandra war keine Italienerin, sie konnte sich kaum verständlich machen. Verheiratet war sie bestimmt nicht. Aber Angst hatte sie, furchtbare Angst, dass der, der ihr die Nase gebrochen hatte, noch einmal kommen und sein Werk vollenden würde. Deswegen ist sie dann wohl auch verschwunden.«
»Hat Ihre Nachbarin«, fing Brunetti an, »seit der Zeit, als Ihnen die Besucherinnen zum ersten Mal aufgefallen sind, einmal etwas gesagt, woraus man schließen könnte, dass sie sich bedroht fühlte?«
Sichtlich um Geduld bemüht, sagte Signora Giusti: »Wie gesagt, Commissario, Costanza lebte sehr zurückgezogen. [124] So etwas hätte sie sich nie anmerken lassen. Das war nicht ihre Art.«
»Nicht einmal im Scherz?«, fragte Vianello dazwischen.
»Über solche Dinge scherzt man nicht«, entgegnete Signora Giusti heftig.
Das sah Brunetti ganz anders; er kannte zahlreiche Beweise für die Fähigkeit des Menschen, sich über alles Mögliche lustig zu machen, auch über die schlimmsten Dinge. Er sah das als eine völlig legitime Art an, den Schrecken zu beschwören. In dieser Beziehung bewunderte er die Briten, die mit ihrem Sarkasmus, ihrem Galgenhumor, dem Tod tollkühn die Stirn boten.
»Signora«, fragte er, »haben Sie daraus für sich irgendwelche Schlüsse gezogen?« Zur Verdeutlichung fügte er hinzu: »Ich frage nach Ihrem allgemeinen Eindruck, was da vor sich gegangen sein könnte.«
Aus irgendeinem Grund machte seine Frage sie merklich ruhiger. Ihre Schultern entkrampften sich. »Sie hat getan, was sie für richtig hielt, um diesen armen Frauen zu helfen.« Sie hob eine Hand, verließ das Zimmer und kam gleich darauf mit einem kleinen Zettel zurück, einem Einzahlungsbeleg von der Post. Sie reichte ihn Brunetti und nahm wieder auf dem Sofa Platz.
»Alba Libera«, las er und fragte sich, was das für eine Morgenröte sein mochte, mit der sie sich da eingelassen hatte.
»Ja«, sagte sie und tat die Plumpheit des Namens mit einer Handbewegung ab. »Der Name dient wohl eher der Verschleierung.«
»Und wer sind die?«, erkundigte sich Brunetti: Das war nicht die Organisation, die Signorina Elettra ermittelt hatte.
[125] »Ein Verein für Frauen. Nicht auf Profit ausgerichtet«, sagte sie und wies auf die Abkürzung hinter dem Namen.
Brunetti verkniff sich die Bemerkung, dass eine solche Abkürzung keine Garantie für Steuerehrlichkeit darstellte, und fragte stattdessen: »Und was macht diese Organisation?«
»Das Gleiche wie Costanza. Sie helfen Frauen, die davongelaufen sind oder sich absetzen wollen. Die haben eine Hotline, die rund um die Uhr besetzt ist. Und wenn eine Frau ernsthaft in Gefahr ist, besorgen sie ihr eine sichere Unterkunft.«
»Und dann?«, fragte der immer praktisch denkende Vianello.
Der kühle Blick, mit dem Signora Giusti dieser Frage zu begegnen trachtete, misslang ihr ein wenig. »Ihnen Unterschlupf gewähren ist doch schon mal ein Anfang, oder?«, erklärte sie. »Und dann versuchen sie, ihnen eine Wohnung in einer anderen Stadt zu besorgen. Und eine Arbeitsstelle.« Sie wollte noch etwas sagen, brach aber ab und meinte dann: »Und manchmal helfen sie ihnen auch, ihren Namen zu ändern. Legal.«
Brunetti nickte. »Und woher beziehen sie ihre finanzielle Unterstützung?«, fragte er. »Beziehungsweise, wie haben Sie von ihnen erfahren?«
Sie senkte den Kopf und betrachtete eingehend ihre Hände. »Ich habe einmal einen von Costanzas Briefen geöffnet«, sagte sie leise. »Versehentlich. Wir haben uns mit der Zeit angewöhnt, uns gegenseitig die Post unten aus dem Briefkasten zu bringen. Es gibt nur einen für alle vier Wohnungen. Wir tun das, damit unsere Briefe nicht mit denen für die anderen Mieter durcheinanderkommen. Oder von deren Kindern [126] genommen werden. Das ist ein paarmal passiert. Wer von uns also als Erste kommt«, erklärte sie, und Brunetti fiel auf, dass sie unversehens wieder ins Präsens zurückgefallen war, »nimmt die Post. Ich lege ihre auf die Matte vor ihrer Tür, und sie legt meine auf den Tisch neben ihrer Tür. Aber einmal - vor ein, zwei Jahren - habe ich einen ihrer Briefe aus Versehen zusammen mit meinen mit nach oben genommen und aufgemacht. Da war eine Broschüre drin, und die habe ich gelesen. Ziemlich schrecklich. Hinten war ein Einzahlungsformular dran«, sagte sie und zeigte auf die Quittung. »Und da stand ihr Name drauf.« Sie brach ab und senkte den
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