Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe

Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe

Titel: Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
Vom Netzwerk:
Blick, Inbegriff eines schuldbewussten Schulmädchens. »Und dann habe ich ihren Namen auch auf dem Umschlag gesehen.«
    »Was haben Sie getan?«, fragte Vianello.
    »Ich habe auf sie gewartet, und als ich sie hörte, bin ich nach unten gegangen, habe ihr den Umschlag gegeben und erklärt, was passiert war. Sie hat mich seltsam angesehen: Irgendwie denke ich, sie hat mir nicht geglaubt. Aber dann nahm sie die Broschüre heraus - ich hatte sie wieder reingesteckt, um nicht so neugierig zu erscheinen - und meinte, ich sollte mir das vielleicht mal durchlesen.«
    Sie sah zwischen den beiden hin und her. »Jedenfalls habe ich denen dann etwas Geld überwiesen, und das tue ich jetzt immer noch, etwa alle sechs Monate. Die können es weiß Gott brauchen.«
    »Verstehe«, sagte Brunetti. Plötzlich knurrte sein Magen. Wie in solchen Situationen üblich, taten alle so, als hätten sie nichts gehört. Er beugte sich vor und zog seine Brieftasche heraus, entnahm ihr eine seiner Visitenkarten und schrieb [127]  seine Handynummer auf die Rückseite. »Signora«, sagte er, »das ist meine Privatnummer. Wenn Ihnen noch etwas einfällt oder falls irgendetwas passiert, das ich Ihrer Meinung nach wissen sollte, rufen Sie mich bitte an.«
    Sie legte die Karte achtlos auf die Sofalehne und stand auf, brachte die beiden zur Tür, gab ihnen die Hand, wünschte einen guten Tag und machte hinter ihnen zu, kaum dass sie die Wohnung verlassen hatten.
    »Und?«, fragte Vianello im Treppenhaus.
    »Ein Beweis mehr, dass die Leute uns nicht trauen.«
    »Dir und mir, oder der Polizei allgemein?«, fragte Vianello, als sie die letzte Treppe erreichten.
    »Der Polizei«, antwortete Brunetti und zog die Haustür auf. Sie traten ins Tageslicht hinaus. »Ich denke, dir und mir vertraut sie. Sonst hätte sie uns nicht von dieser Sache mit Alba Libera erzählt.« Dann meinte er: »Komischer Name, oder?«
    Vianello zuckte die Schultern. »Du meinst, weil er sich so hochtrabend anhört?«
    Brunetti nickte. »Aber auch nicht mehr als Opus Dei, finde ich.«
    Vianello fuhr sich lachend mit beiden Händen durchs Haar, als wollte er die Ereignisse des Vormittags von sich abstreifen. »Ich nehme die 51«, sagte der Ispettore. »Die ist schneller.«
    Brunetti begriff erst mit einiger Verzögerung: Vianello wollte ihn nicht nach Rialto zurückbegleiten, wo er die Eins nach Castello nehmen könnte. Wie Brunetti zog es ihn zum Mittagessen nach Hause, und mit dem Boot, das um die Insel herum zur Anlegestelle Celestia fuhr, ging das am schnellsten.
    [128]  »Also bis später«, sagte Brunetti und machte sich auf den Heimweg. Während seine Füße sich um die Navigation kümmerten, ließ Brunetti sich noch einmal durch den Kopf gehen, was sie eben gehört hatten. Er gelangte aus der Calle Bernardo auf den Campo San Polo, war aber blind für alles und jeden, dachte nur an die junge Frau, die mit blutüberströmtem Gesicht auf dem Treppenabsatz gelegen hatte. Und er versuchte sich vorzustellen, wie sie dort hingekommen war und wohin sie gegangen sein mochte, nachdem Signora Giusti sie gefunden hatte.
    Allein schon die Existenz des Mannes, der das Mädchen geschlagen hatte - Brunetti hegte keinen Zweifel am Geschlecht des Angreifers -, gab einen ersten Hinweis darauf, dass Signora Altavillas Engagement für die Unglücklichen nicht nur für helle Freude gesorgt haben könnte. Als ihm klar wurde, wie zynisch er seine Überlegungen formulierte, stöhnte Brunetti unwillkürlich auf, wie so oft, wenn ihm von seinen düsteren Gedanken selbst das Fürchten kam.
    Angenommen, ihr Sohn hatte vom Kommen und Gehen dieser Mädchen und Frauen gewusst, so könnte das seine Nervosität erklären. Vielleicht hatte er seine Mutter davor gewarnt, die Frauen in ihrer eigenen Wohnung aufzunehmen: Brunetti fand es kaum denkbar, dass ein Sohn das nicht tun würde. Aber er lebte in Lerino, sie in Venedig, und daher dürfte sein Einfluss auf das, was sie tat oder nicht tat und wen sie in ihre Wohnung ließ oder nicht, relativ gering gewesen sein.
    Vor seinem Haus angekommen, kreiselten seine Gedanken immer noch wie ein Aufziehspielzeug, das an eine Wand gelaufen war, sich aber auch davon nicht bremsen lassen [129]  wollte: Signora Giustis Aussage über die Frauen, die in der Wohnung ein und aus gegangen waren, dazu die Erinnerung an Dottor Niccolini, wie er vor der Pathologie gewartet hatte, ließen ihn einfach nicht los. Gleichzeitig hatte er wie einen Tinnitus Pattas Mahnung im Ohr, die

Weitere Kostenlose Bücher