Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe
beugte sich wieder über seine Notizen.
[117] »Möglich«, sagte Signora Giusti unsicher.
Brunetti spürte ihr Zögern und wurde ernst. »Signora, wir möchten so viel es geht über sie in Erfahrung bringen. Alle, mit denen wir reden, beschreiben sie als guten Menschen, und ich ziehe das auch gar nicht in Zweifel. Aber ich kann nicht viel damit anfangen. Überlegen Sie bitte, jede Kleinigkeit könnte uns weiterhelfen.«
»Helfen? Wobei?«, fragte sie mit einer Heftigkeit, die Brunetti verblüffte. »Wozu wollen Sie das alles wissen? Sie sind Polizist, und es kommt nie etwas Gutes dabei heraus, wenn man mit Polizisten redet. Seit Sie hier sind, erzählen Sie mir alles Mögliche, von dem Sie meinen, dass ich es hören möchte, aber warum diese Fragen wichtig sind, haben Sie mir noch nicht gesagt.«
Sie hielt kurz inne, aber nicht, um sich zu beruhigen oder weil sie auf eine Erklärung wartete. »Ich habe die Zeitungen gelesen, und da steht, sie ist an einem Herzversagen gestorben. Wenn das stimmt, haben Sie hier nichts verloren und keine Fragen zu stellen.«
»Ich kann Ihre Sorgen verstehen, Signora, wo Sie doch im selben Haus wohnen«, sagte Brunetti.
Sie presste beide Hände an die Schläfen, als sei ihr das alles zu laut oder als leide sie Schmerzen. »Aufhören, aufhören, aufhören. Entweder Sie sagen mir, was hier vorgeht, oder Sie verschwinden auf der Stelle, alle beide.« Die letzten Worte schrie sie fast.
Brunettis Erfahrung stritt mit seinem Instinkt; seine Menschenkenntnis traf auf sein Mitgefühl. Die Vorsicht gewann. Wenn jemand etwas wusste, hatte man es nicht mehr in der Hand, und der andere konnte damit machen, was er wollte, [118] und das war in vielen Fällen nicht mit dem deckungsgleich, was man selber wollte.
»Also gut«, sagte er und zwang sich, möglichst gelöst und offen zu wirken. »Todesursache war ein Herzversagen; das steht außer Frage. Aber wir möchten die Möglichkeit ausschließen, dass jemand Umstände herbeigeführt hat, die den Herztod begünstigt haben könnten.«
Seine Ausdrucksweise brachte sie auf. »Was soll das nun wieder heißen?«
Als sei ihm ihre Reaktion entgangen, antwortete er gleichmütig: »Das heißt, dass jemand ...« Hier unterbrach er sich, und es schien, als versuchte er, ihre Vertrauenswürdigkeit einzuschätzen, bevor er fortfuhr: »Dass jemand sie erschreckt oder bedroht haben könnte.«
Etwas ruhiger fragte sie: »Ist das eine offizielle Ermittlung?«
Er schaltete auf die Wahrheit um. »Nein, nicht direkt. Es geht eher um meinen Seelenfrieden, oder den ihres Sohns. Ich möchte die Möglichkeit ausschließen, dass sie ... dass jemand sie vorsätzlich zu Tode erschreckt hat. Ich will wissen, ob jemand sie auf irgendeine Weise bedroht hat, und ich dachte, Sie könnten mir vielleicht weiterhelfen.«
»Macht das einen Unterschied?«, fragte sie.
»Wie bitte?«
»Rein rechtlich«, sagte sie.
Da er ihr nichts von den Abdrücken an Signora Altavillas Hals und Schultern erzählen wollte, blieb Brunetti ihr eine Antwort schuldig.
Sie stand auf, ging zum Fenster und sah auf den campo und die Kirche hinaus. »Wenn ich unten aus der Haustür [119] komme«, sagte sie, »erscheint mir die Kirche schwer und mächtig, fest im Boden verankert. Aber von hier oben könnte man fast meinen, sie habe Flügel.« Sie schwieg lange; Brunetti und Vianello tauschten einen Blick aus.
»Dieselbe Kirche. Aus verschiedenen Blickwinkeln«, sagte sie und verfiel wieder in Schweigen.
»Wie Costanza«, sagte sie nach geraumer Zeit, und Brunetti und Vianello tauschten wieder einen Blick, wenn auch nur einen kurzen. »Als ich die Frauen zum ersten Mal auf der Treppe sah, hatte ich keine Ahnung, wer sie waren. Ich wusste, dass es keine Putzfrauen sein konnten, denn wir hatten beide dieselbe, Luba. Aber ich konnte Costanza nicht fragen. Dafür lebte sie zu zurückgezogen. Auf jeden Fall kamen immer wieder welche, manche habe ich auch mehrmals gesehen. Wie gesagt, anfangs sind sie mir kaum aufgefallen. Später schon, aber da sie niemals Ärger machten und immer sehr höflich waren, habe ich mir nicht viel dabei gedacht.«
»Bis?«, fragte Brunetti, der spürte, dass er ihr mit Fragen helfen sollte, die Geschichte weiterzuerzählen.
»Bis ich eine von ihnen auf der Treppe fand, das heißt, auf dem Absatz vor Costanzas Wohnungstür: Ich kam die Treppe rauf, und da lag sie. Costanza war nicht zu Hause - ich habe geklingelt und das Mädchen lag da vor ihrer Tür. Zuerst dachte
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