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Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe

Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe

Titel: Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
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ich, sie ist betrunken oder so was. Keine Ahnung, warum ich das gedacht habe; die waren immer sehr still gewesen.« Sie wandte den Blick ab, und Brunetti sah ihr an, dass sie über das Gesagte nachdachte. »Vielleicht sind da meine bürgerlichen Vorurteile zum Vorschein gekommen, weil die alle so arm wirkten.«
    [120]  Sie hob die Schultern. »Ich weiß es nicht. Ich konnte sie doch nicht einfach liegen lassen, also versuchte ich, ihr hochzuhelfen. Sie stöhnte, bewusstlos war sie also nicht. Und dann sah ich ihr Gesicht. Ihre Nase stand ganz schief, und ihr Mantel war vorne voller Blut. Das hatte ich nicht gleich bemerkt, weil der Mantel schwarz war, und ihr Gesicht konnte ich erst sehen, nachdem ich sie aufgerichtet hatte.«
    Signora Giusti drehte sich um und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich frage, was passiert ist, und sie sagt, sie ist draußen hingefallen. Also wollte ich natürlich einen Arzt rufen und sie ins Krankenhaus bringen lassen.«
    »War sie Italienerin?«, fragte Vianello.
    »Nein, ich weiß nicht, wo sie herkam. Irgendwo aus dem Osten, würde ich sagen, aber sicher bin ich mir nicht.«
    »Hat sie Italienisch gesprochen?«
    »Jedenfalls genug, um mich zu verstehen und mir von dem Sturz zu erzählen. ›Cadere. Pavimento‹, immer wieder. Solche Sachen. Und ›ospedale‹ hat sie auch verstanden.«
    »Wie hat sie darauf reagiert?«
    »Sie war außer sich. Packte meine Hand und sagte: ›Prego, prego, no ospedale.‹ Immer wieder.«
    »Und dann?«, fragte Brunetti.
    »Dann ging unten die Haustür auf.« Sie schloss die Augen, rief sich die Szene ins Gedächtnis. »Die Frau - oder vielmehr das junge Mädchen - ist in Panik geraten. Ich hatte so was noch nie gesehen, nur davon gelesen. Sie kroch in eine Ecke und presste sich in den hintersten Winkel, zog sich den Mantel über den Kopf, als könnte sie sich damit unsichtbar machen. Dabei war ihr Stöhnen im ganzen Haus zu hören.«
    [121]  »Und dann?«
    »Und dann kam Costanza die Treppe rauf. Sie sagte kein Wort, blieb einfach nur vor uns stehen. Das Mädchen winselte wie ein Tier. Ich wollte etwas sagen, aber Costanza hob eine Hand und sprach das Mädchen mit Namen an, Alessandra oder Alexandra, ich weiß nicht mehr, und sagte, alles ist gut, sie brauche keine Angst zu haben, so wie man mit Kindern redet, wenn sie nachts aufwachen.«
    »Und das Mädchen?«, fragte Vianello.
    »Hörte auf zu jammern, und Costanza kniete sich neben sie.« Plötzlich fiel ihr etwas ein, und sie sah die beiden überrascht an. »Aber sie hat sie nicht angefasst. Nur noch ein paarmal ihren Namen genannt und gesagt, alles ist gut, nur keine Angst.«
    »Und weiter?«, fragte Brunetti.
    »Ich stand auf, und Costanza sagte: ›Danke‹, als hätte ich ihr eine Tasse Tee angeboten. Aber es war klar, sie wollte, dass ich ging. Also bin ich zurück in meine Wohnung.«
    »Haben Sie das Mädchen danach noch mal gesehen?«
    »Nein. Nie mehr. Ein paar Monate später kam wieder mal eine - insgesamt waren es noch zwei oder drei -, aber ich habe keine von ihnen angesprochen.«
    »Hat Signora Altavilla den Vorfall Ihnen gegenüber dann noch mal erwähnt?«
    »Nein. Sie tat so, als sei nichts gewesen, und nach einer Weile kam es mir auch so vor. Wir grüßten uns im Treppenhaus, oder sie lud mich auf eine Tasse Tee ein oder kam gelegentlich zu mir in die Wohnung. Aber von dieser Sache haben wir nie mehr gesprochen.« Sie sah zwischen den beiden hin und her. »Sie wissen doch, wie das ist. Jedes Ereignis, [122]  ob gut oder schlecht, verblasst mit der Zeit, wenn man nicht darüber redet. Man vergisst es zwar nicht, aber es wird schemenhaft.«
    Brunetti konnte dem nur zustimmen, und Vianello sagte: »So ist es, anders könnte das Leben gar nicht weitergehen.«
    Brunetti und Signora Giusti sahen sich an. Sie nickte, und er nickte ebenfalls. Ja, anders konnte das Leben nicht weitergehen.

[123]  12
    S ind Sie je dahintergekommen, was sie gemacht hat?«, fragte Brunetti schließlich.
    »Da gibt es nicht viel zu verstehen, oder?«
    »Wie meinen Sie das?«, fragte Brunetti.
    »Na ja, ich nehme an, sie hat in ihrer Wohnung Frauen aufgenommen, denen von irgendwo Gefahr drohte.« Sie kam seiner Frage zuvor: »Von ihren Partnern oder Ehemännern, oder bei diesen Frauen aus dem Osten vielleicht von den Männern, denen sie gehören.«
    »Gehören?«
    »Sie sind Polizist. Davon sollten Sie doch etwas verstehen«, sagte sie so provozierend, dass die beiden überrascht aufsahen. Dann fuhr sie

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