Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe
und ging über die Brücke auf den Campo San Lorenzo. Aus der Nähe sah er, dass das Schild, wann Restaurierungsarbeiten an der Kirche vorgesehen waren, mittlerweile schon von der Sonne ausgebleicht war. Er konnte sich nicht mehr erinnern, wann sie damit hätten anfangen sollen - doch es war [158] Jahrzehnte her. In der Questura behauptete man, die Arbeiten seien tatsächlich in Angriff genommen worden, aber das musste vor Brunettis Zeit gewesen sein, und so wusste er davon nur gerüchtehalber. Seit Jahren genoss er von seinem Fenster den Blick auf den campo und hatte beobachtet, wie die Renovierung des Altenheims daneben nicht nur begonnen, sondern sogar abgeschlossen worden war. Vielleicht war das ja wichtiger als die Renovierung einer Kirche.
Er lief kreuz und quer durch die Gassen, kam wieder an der Kirche San Antonin vorbei und gelangte die Salizzada hinunter auf den campo mit den schattenspendenden Bäumen.
Er überquerte den Platz und läutete an der casa di cura, meldete sich mit Namen und sagte, er wolle mit Madre Rosa sprechen. Diesmal erwartete ihn an der Tür im ersten Stock eine andere Nonne, noch älter als Madre Rosa. Brunetti gab ihr die Hand, trat ein und ließ es sich nicht nehmen, die Tür hinter sich zu schließen. Die Nonne dankte lächelnd und führte ihn in den Raum, in dem er bereits zuvor mit der Oberin gesprochen hatte.
Heute saß Madre Rosa im Sessel, ein offenes Buch im Schoß. Sie nickte zum Gruß und klappte das Buch zu. »Was kann ich diesmal für Sie tun, Commissario?«, fragte sie. Da sie ihm keinen Platz anbot, kam er nur näher, blieb aber stehen.
»Ich möchte mit den Leuten sprechen, die Signora Altavilla am besten gekannt haben«, sagte er.
»Verstehen Sie bitte, dass ich Ihren Wunsch nicht so recht nachvollziehen kann«, entgegnete die Oberin. Und als Brunetti nicht darauf reagierte: »Und auch Ihr Interesse nicht.«
[159] »Natürliche Neugier, Madre«, meinte Brunetti nur.
»Aber was bestimmt Sie dazu?«
Er sprach es aus, ohne nachzudenken: »Mich interessiert, was das Herzversagen ausgelöst hat.« Und dann, um jeder weiteren Frage zuvorzukommen: »Es ist zweifelsfrei erwiesen, dass Signora Altavilla an einem Herzanfall starb, und der Arzt hat mir versichert, dass es sehr schnell gegangen ist.« Die Oberin schloss die Augen und nickte dankbar. »Aber ich möchte mich dennoch vergewissern, dass der Anfall ... dass er nicht von irgendetwas herbeigeführt wurde. Ich meine, von etwas Unerfreulichem.«
»Setzen Sie sich, Commissario«, sagte sie. Und als er Platz genommen hatte: »Ihnen ist bewusst, was Sie da eben gesagt haben.«
»Durchaus.«
»Wenn Sie der Ansicht sind, der Herzanfall - möge sie in Frieden ruhen -«, fing sie an und hielt kurz inne, bevor sie weitersprach, »könnte durch etwas Unerfreuliches ausgelöst worden sein, so müssen Sie Anlass zu dieser Sorge haben. Und wenn Sie bei uns nach diesem Anlass forschen, gehen Sie offenbar davon aus, dass einer ihrer Schützlinge ihr etwas erzählt hat, das Ihnen weiterhelfen könnte.«
»So ist es«, sagte er, beeindruckt von ihrer raschen Auffassungsgabe.
»Und wenn dem so ist, könnte derjenige ebenfalls in Gefahr sein.«
»Möglicherweise, je nachdem, worum es ging.« Brunetti merkte, dass ihm nichts anderes übrigblieb, als ihr zu vertrauen: »Madre, ich habe keine Ahnung, was geschehen ist, und weiß selbst nicht, warum ich so ein eigenartiges Gefühl [160] habe, dass mit ihrem Tod irgendetwas nicht stimmen könnte.« Er ließ die Abdrücke an ihrem Körper mit Bedacht unerwähnt und fragte sich, ob es schlimmer sei, eine Nonne zu belügen, als jemand anderen zu hintergehen, doch warum auch.
»Heißt das, Sie sind nicht ... Wie soll ich sagen? Sie sind nicht offiziell hier?« Sie schien mit ihrer Formulierung zufrieden.
»Ganz recht«, musste er zugeben. »Es geht mir nur darum, ihren Sohn zu beruhigen.« Das war die Wahrheit, wenn auch nicht die ganze.
»Verstehe«, sagte die Oberin. Zu seiner Verblüffung schlug sie das Buch in ihrem Schoß wieder auf und begann zu lesen. Brunetti blieb eine Zeitlang stumm sitzen, wie lange, wusste er am Ende selbst nicht mehr.
Schließlich nahm sie das Buch dicht vors Gesicht und schien daraus vorzulesen: »›Die Augen des Herrn sind überall, sie erspähen die Bösen und die Guten.‹« Sie ließ das Buch sinken und sah ihn über den Rand hinweg an. »Glauben Sie das, Commissario?«
»Nein, leider nicht, Madre«, sagte er, ohne zu zögern.
Sie legte
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