Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe

Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe

Titel: Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
Vom Netzwerk:
ist - und ich glaube kaum, dass irgendjemand Vianello bedrohlich findet -, dann vielleicht deshalb, weil sie aus dem Süden stammt und es tatsächlich etwas gibt, womit sie hinter dem Berg hält. Ich würde diese Möglichkeit niemals ausschließen.« Sie verließ lächelnd das Büro, und Brunetti konnte sich nur noch fragen, warum sie nicht gesagt hatte, sie glaube kaum, dass irgendjemand ihn bedrohlich finde.
    Als er aufblickte, stand Tenente Scarpa in der Tür. Brunetti konnte seine Überraschung nur mühsam verbergen. »Guten Morgen, Tenente«, sagte er. Immer wenn er den Tenente sah, schoss ihm das Wort »Reptil« durch den Kopf. Das hatte nichts mit dem Aussehen des Tenente zu tun, denn der war ein recht ansehnlicher Mann: groß und schlank, mit markanter Nase und weit auseinander stehenden Augen über hohen Wangenknochen. Vielleicht lag es an einer gewissen Gewundenheit seiner Bewegungen, an der Art, wie er beim Gehen seine Füße nicht richtig hoch zu bekommen schien, was immer so wirkte, als habe er weiche Knie. Brunetti wollte sich nicht eingestehen, dass er nur deshalb so von ihm dachte, weil er im Innern dieses Mannes das kalte Blut von Reptilien und ansonsten nichts als Leere vermutete.
    »Nehmen Sie Platz, Tenente«, sagte er und legte in einer Geste höflicher Erwartung die gefalteten Hände auf den Tisch.
    Der Tenente gehorchte. »Ich möchte Sie um einen Rat bitten, Commissario«, sagte er mit seinem sizilianischen Akzent, der alle Konsonanten glattbügelte.
    »Ja?«, fragte Brunetti betont sachlich.
    »Es geht um zwei Männer aus dem Bereitschaftsraum.«
    [156]  »Ja?«
    »Alvise und Riverre«, sagte Scarpa, und die Alarmglocken hätten bei Brunetti nicht schriller geläutet, wenn er dabei gezischt hätte.
    Brunetti mimte gelindes Interesse; er fragte sich, was die zwei Clowns jetzt schon wieder angestellt haben mochten. »Ja?«
    »Die beiden sind unmöglich, Commissario. Riverre kann man noch fürs Telefon abstellen, aber Alvise ist dafür schlichtweg unbrauchbar.« Scarpa beugte sich vor und legte eine Hand flach auf Brunettis Schreibtisch, wie um echte Besorgnis zu bekunden.
    Brunetti hatte auch keine hohe Meinung von den beiden Männern. Riverre besaß immerhin ein Talent, Erwachsene zum Reden zu bringen; er verfügte durchaus über ein gewisses Einfühlungsvermögen. Aber für Alvise gab es nur ein Wort: hoffnungslos. Oder zwei: hoffnungslos dämlich. Er musste daran denken, wie Alvise vor ein paar Jahren einmal monatelang mit Scarpa an einem Spezialauftrag gearbeitet hatte: War der arme Teufel auf etwas gestoßen, das den Tenente in die Bredouille bringen konnte? Falls ja, war das Alvise jedenfalls selbst nicht bewusst, sonst hätte die ganze Questura noch am selben Tag davon erfahren.
    »Ich bin da anderer Ansicht, Tenente«, log Brunetti. »Und außerdem verstehe ich nicht, weshalb Sie damit zu mir kommen.« Was immer der Tenente wollte, Brunetti würde sich ihm entgegenstellen. So einfach war das.
    »Ich hatte gehofft, Ihre Sorge um die Sicherheit der Stadt und das Ansehen der Polizei könnte Sie zum Einschreiten veranlassen. Deswegen habe ich mich an Sie gewandt«, und [157]  erst mit der üblichen aufreizenden Verzögerung schloss er: »Signore.«
    »Ich weiß Ihre Aufmerksamkeit sehr zu schätzen, Tenente«, erklärte Brunetti verbindlich. Dann stand er auf und schloss bedauernd: »Leider habe ich eine dringende Verabredung und muss jetzt sofort los. Aber ich werde über Ihre Anregungen nachdenken und ...«, er brach ab, um zu zeigen, dass auch er die Kunst der Verzögerung beherrschte: »... und über den Geist, der sie beseelt.«
    Brunetti kam hinter seinem Schreibtisch hervor und blieb neben dem Tenente stehen, dem nichts anderes übrigblieb, als sich ebenfalls zu erheben. Brunetti geleitete Scarpa hinaus und machte hinter sich die Tür zu, was er selten tat; dann ging er dem anderen voran die Treppe hinunter, verabschiedete sich unten mit einem Nicken und verließ die Questura, ohne wie sonst noch ein Wort mit dem Wachmann zu wechseln. Draußen beschloss er, noch einmal nach Bragora zu gehen; vielleicht konnte er dort mit den alten Herrschaften reden, deren Signora Altavilla sich angenommen hatte. Immer noch besser, sich von alten Leuten Geschichten aus ihrer Vergangenheit anzuhören - ganz gleich, wie verzerrt die Erinnerungen waren als von einem wie Tenente Scarpa Einsichten über Alvise und Riverre aufgetischt zu bekommen.
    Er entschied sich für den längeren Weg nach Bragora

Weitere Kostenlose Bücher