Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe
auf.
Nachdem auch er aufgelegt hatte, meinte er zu Signorina Elettra: »Zu beschäftigt, mit mir zu reden.«
»An Selbstunterschätzung leidet sie jedenfalls nicht«, war ihr einziger Kommentar.
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S ie haben die Berichte gesehen?«, fragte Brunetti; sein Interesse und seine Achtung vor ihrer Angewohnheit, alle amtlichen Dokumente aufmerksam und skeptisch durchzulesen, überwogen jegliche Bedenken, die er wegen ihrer Befugnisse haben mochte.
Signorina Elettra nickte.
»Und?«
»Die Spurensicherung war gründlich«, sagte sie. Da Brunetti sich jeden Kommentar sparte, fuhr sie fort: »Die Abdrücke an den Schultern und das Trauma an der Wirbelsäule haben mich stutzig gemacht.«
»Mich auch«, sagte Brunetti. Er blieb lieber vorsichtig und erwähnte nichts von dem, was Rizzardi ihm unter vier Augen gesagt hatte.
Sie sah ihn scharf an, aber ihre Stimme blieb ruhig: »Wie bedauerlich, dass der Doktor nicht stutzig geworden ist.«
»Normalerweise wird er das schon«, sagte Brunetti.
»Eben.« Ihrem Tonfall war nicht zu entnehmen, ob das eine Feststellung oder eine Frage nach Rizzardis Meinung sein sollte. »Sie haben mit den Nonnen in der casa di cura gesprochen.« Diesmal bestand kein Zweifel, dass sie das als Frage meinte.
»Ja.«
»Und?«, fragte sie genauso einsilbig zurück.
»Die Nonne, mit der ich gesprochen habe, hatte eine hohe Meinung von ihr. Die Oberin schien gesprächsbereit, aber ...«, [153] fing er an und verstummte, weil er nicht wusste, wie er sein schlimmstes Vorurteil begründen sollte. Da sie ihm nicht weiterhalf, musste er es nach einer Weile selbst versuchen. »Aber sie stammt aus dem Süden, und ich hatte den Eindruck, sie ...«
»Verschwieg Ihnen etwas?«
»Richtig«, sagte er. »Vianello war auch dabei.«
»Oft hilft das ja«, sagte sie. »Bei Frauen.«
»Diesmal nicht. Vielleicht weil wir zu zweit waren. Und so groß.«
Sie sah ihn an, als betrachte sie ihn zum ersten Mal. »Ich habe Sie beide nie für besonders groß gehalten«, sagte sie und musterte ihn noch einmal. »Aber vielleicht ja doch. Wie klein war sie denn?«
Brunetti hielt sich eine Hand waagrecht vor die Brust.
Signorina Elettra nickte. Plötzlich war ihre Miene nicht mehr so lebhaft, und ihr Blick ging nach innen, zwei Dinge, die er gelegentlich bei ihr beobachtete, wenn sie etwas beschäftigte. Er war klug genug zu warten, bis sie von selbst etwas sagte. »Ich habe schon oft gedacht, dass Nonnen anders auf Männer reagieren«, meinte sie schließlich.
»In welcher Weise anders? Oder anders als andere?«, fragte er.
»Anders als Frauen, die ...«, sie suchte offenbar nach dem richtigen Ausdruck, »... als Frauen, die Männer anziehend finden.«
»Meinen Sie in romantischer Hinsicht?«
Sie lächelte. »Wie delikat Sie das ausdrücken, Commissario. Ja, ›in romantischer Hinsicht‹.«
»Was ist da anders?«, fragte Brunetti.
[154] »Wir haben weniger Angst vor ihnen«, sagte sie spontan, fügte aber gleich hinzu: »Oder vielleicht haben wir eher Vertrauen zu ihnen, weil wir uns besser damit auskennen, wie sie denken.«
»Sie meinen, Frauen verstehen uns?«
»Das brauchen wir zum Überleben, Commissario.« Sie sagte das mit einem Lächeln, fuhr dann aber mit ernster Miene fort: »Vielleicht ist das wirklich der Unterschied - wir leben mit Männern zusammen, haben täglich mit ihnen zu tun, verlieben uns in sie oder trennen uns wieder von ihnen. Ich nehme an, das nimmt uns das Gefühl des Fremdartigen.«
»Des Fremdartigen?«, fragte Brunetti ehrlich überrascht.
»Jedenfalls des Andersartigen«, sagte sie.
»Und Nonnen?«, lenkte er sie auf ihr ursprüngliches Thema zurück.
»Denen ist ein ganzer Bereich zwischenmenschlicher Beziehungen verschlossen. Ich rede vom Flirten, Dottore, vom Spiel mit dem Gedanken, dass wir unser Gegenüber attraktiv finden.«
»Sie meinen, Nonnen kennen das nicht?«, fragte er verwundert, weil sie von »Spiel« gesprochen hatte.
Sie hob die Achseln. »Ich habe keine Ahnung, ob sie das kennen. Ich will es aber hoffen, weil bei Leuten, die es schaffen, das zu unterdrücken, etwas nicht stimmen kann.« Unvermittelt stand sie auf, was ihn gleichzeitig überraschte und, wie er feststellte, auch enttäuschte, weil sie offenbar nicht weiter über dieses Thema reden wollte.
»Sie sagten, Sie hatten den Eindruck, die Nonne verschweigt Ihnen etwas«, erklärte sie und trat hinter ihren Stuhl. »Wenn [155] der Grund dafür nicht ihre Einstellung gegenüber Männern
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