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Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe

Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe

Titel: Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
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Raum schweifen, als sei sie gar nicht da oder als schenke er ihr keinerlei Beachtung.
    Die zwei Novizinnen bewegten sich flink um die Tische herum und sammelten die Pastateller ein. Als sie an Brunetti vorbei damit zur Küche gingen, sah er dunkelgrüne Reste von Pesto, eine Sauce, die er noch nie gemocht hatte. Gleich darauf kamen die beiden mit je drei Tellern kleingeschnittenem Schweinefleisch, Karotten und Bratkartoffeln zurück, stellten sie vor die Leute an den ersten Tischen, verschwanden und erschienen alsbald mit den restlichen Tellern.
    Das Stimmengewirr, das bei seinem Eintritt verstummt war, hob wieder an, und die Köpfe - die meisten weiß, einige aber trotzten dem Grau - beugten sich über das Essen. Gabeln klapperten, Flaschen stießen an Gläser; die üblichen Geräusche einer Mahlzeit.
    Plötzlich erschien neben ihm die Nonne, die ihm die Haustür geöffnet hatte, und fragte: »Soll ich Ihnen die Leute zeigen, Signore?«
    Brunetti nahm an, dass die Oberin sie geschickt hatte. »Das wäre sehr freundlich, Suora.«
    »Dottor Grandesso speist heute auf seinem Zimmer, Signora Sartori sitzt dort drüben am zweiten Tisch, die Frau im schwarzen Kleid. Und die Rothaarige bei den Leuten am Tisch daneben, das ist Signora Cannata.«
    Brunetti sah sich nach den beiden Frauen um. Signora Sartori aß weit nach vorn gebeugt, den linken Arm um den Teller geschlungen, als fürchte sie, jemand könnte ihr das Essen wegnehmen. Er sah sie im Profil: den spitzen hohen Wangenknochen, das faltige Doppelkinn. Grellroter Lippenstift, [165]  an den Rändern verschmiert. Ihre Haut schimmerte wie die Haut von Leuten, die nicht mehr ans Tageslicht kommen, in einem fahlen Grün, eine Fahlheit, die durch ihr tiefschwarzes schulterlanges Haar noch unterstrichen wurde.
    Die knorrige Faust um die Gabel geklammert, schaufelte sie Kartoffeln in sich hinein. Brunetti bemerkte, dass man ihr den Braten in kleine Stücke geschnitten hatte. Nach den Kartoffeln schlang sie ebenso schnell die Karotten hinunter. Dann nahm sie ein Stück Brot, wischte damit die eine Hälfte ihres Tellers sauber, dann mit dem Rest des Brots die andere Hälfte. Anschließend aß sie noch zwei Scheiben Brot, und als nichts mehr da war, blieb sie einfach reglos sitzen. Eine der Novizinnen trug ihren Teller weg und musste sich dafür einen zornigen Blick gefallen lassen.
    Brunetti ging auf die Frau mit den flaumigen roten Haaren zu. Die Novizinnen huschten an ihm vorbei und servierten jedem der drei Leute am Tisch ein Stück Apfelkuchen. Brunetti blieb kurz davor stehen und fragte vorsichtig: »Signora Cannata?«
    Das Lächeln, mit dem sie zu ihm aufblickte, signalisierte automatische Flirtbereitschaft. Heftig zwinkernd hob sie eine Hand, wie um Brunetti auf Distanz zu halten, als sei sie ein Teenager und er der erste Junge, der ihr ein Kompliment gemacht hatte. Ihre Nase war schmal und fein gezeichnet, die Haut unter ihren Augen gestrafft und ein wenig heller als der Rest des Gesichts. Ihr Mascara war mit unbeholfener Hand aufgetragen, ebenso der Lippenstift, von dem Spuren an ihrer Serviette und in den Fältchen um ihren Mund zu sehen waren. Sie konnte sechzig sein; sie konnte ein Kind von sechzig Jahren haben.
    [166]  Die anderen am Tisch drehten sich zu ihm um, ein Mann mit schütterem weißem Haar und verdächtig schwarzem Schnurrbart, und eine blonde Frau, deren Gesicht und das, was Brunetti von ihrem Oberkörper sah, aus gegerbtem Leder zu sein schien. Ihr Kopf und auch ihre Hände bewegten sich fahrig zitternd hin und her.
    Er nickte ihnen lächelnd zu. »Und Sie sind?«, fragte der Mann mit dem Schnurrbart.
    »Guido Brunetti«, erklärte er und fügte bewusst sachlich hinzu: »Ein Freund von Costanza Altavilla.«
    Ihre Augen blieben ausdruckslos, immerhin bezwang die Blonde ihr Zittern, zog die Mundwinkel nach unten, drehte den Kopf zur Seite und sagte: »Ah, povera donna«, und der Mann schüttelte den Kopf und machte ein schnalzendes Geräusch mit der Zunge. War das der Lauf der Dinge?, fragte sich Brunetti. Erreichten wir alle einen Punkt im Leben, wo uns der Tod anderer Menschen nicht mehr berührte und man von uns bestenfalls noch so etwas wie eine Nachahmung von Trauer, eine vermeintliche Betroffenheit erwarten konnte? Was er hier beobachtete, schien ihm weit mehr mit Missbilligung als mit Trauer gemein zu haben. Schande über den Tod, dass er sich am Fenster unseres Lebens zeigt; Schande über den Tod, der uns daran erinnert hat, dass er draußen

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