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Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe

Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe

Titel: Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
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folgte, anzukündigen. Die Frau, die vorhin so fieberhaft ihr Essen in sich hineingeschlungen hatte, saß auf einem Holzstuhl vor dem einzigen Fenster des Zimmers. Sie starrte die Fensterläden gegenüber an, vielleicht auch nur die Wand: [179]  Ihre Miene war ausdruckslos, und wieder sah Brunetti sie im Profil. Den grellroten Lippenstift hatte sie offenbar frisch nachgezogen.
    »Signora Sartori«, sagte die Novizin. »Ich habe Ihnen Besuch mitgebracht.« Die Frau starrte weiter aus dem Fenster.
    »Signora Sartori«, versuchte sie es noch einmal. »Dieser Herr möchte Sie gerne sprechen.« Immer noch keine Reaktion.
    Brunetti hörte noch jemanden ins Zimmer kommen, und als er sich umdrehte, stand dort die andere Novizin - die er für sich jetzt die Toltekin nannte. Beide Hände sorgsam unter ihrem Skapulier verborgen, erklärte sie: »Schwester Giuditta braucht dich in der Küche.« Sie lächelte Brunetti nervös an, unsicher, ob sie zu ihm auch etwas sagen sollte.
    Die Angesprochene presste die Hände zusammen, sah zwischen Brunetti und der Toltekin hin und her, dann wieder nach Signora Sartori. Brunetti schwang sich zu einem souveränen Befehlston auf: »Also gut. Gehen Sie zu Schwester Giuditta, ich warte hier so lange auf Sie.« Zum Beweis seiner unendlichen Geduld wie auch zur Bekräftigung seiner Absicht, das Zimmer nicht zu verlassen, sah er sich um und entdeckte links von der Tür einen Stuhl, auf den er sich setzte - in gebührendem Abstand von der Frau am Fenster.
    Die beiden Mädchen - denn das waren sie praktisch noch - nickten angesichts dieser Demonstration männlicher Autorität, gingen zusammen aus dem Zimmer und überließen ihn Signora Sartori. Oder sie ihm.
    Er blieb still sitzen, versuchte zu erspüren, ob sie sich seiner Anwesenheit bewusst war oder nicht, und mit der Zeit kam ihm der Verdacht, dass sie seine Gegenwart nicht weniger [180]  deutlich wahrnahm als er die ihre. Er ließ noch mehr Zeit verstreichen. Ab und zu ging draußen jemand vorbei, aber da er hinter der Tür saß, bemerkten ihn die Leute nicht. Niemand warf einen Blick ins Zimmer, niemand kam herein, um mit Signora Sartori zu sprechen. Nach etwa zehn Minuten nahm Brunetti an, die Novizinnen hätten ihn vergessen; oder vielleicht dachten sie, er sei längst gegangen.
    Er erinnerte sich an die Tische im Speisesaal und wo er dort gesessen hatte: links von Signora Cannata, nur einen Stuhl von Signora Sartori entfernt. Sie konnte ohne weiteres ihre Unterhaltung mitgehört haben, zumal als es nach dem Weggang der beiden anderen ruhig geworden war. Da sie so sehr mit ihrem Essen beschäftigt schien, war er gar nicht auf die Idee gekommen, dass sie sich womöglich auch noch auf etwas anderes konzentrierte; andererseits hatte er Signora Cannata nichts Weltbewegendes anvertraut.
    Allmählich setzte es ihm zu, wie die Zeit verging, ohne ein Wort, aber er zwang sich, weiterhin gar nichts zu tun.
    Als sie endlich etwas sagte, klang ihre Stimme rauh, so wenig war sie das Sprechen noch gewohnt. »Sie war eine gute Frau.« Wie oft sollte Brunetti sich das noch anhören? Er hatte das nie bezweifelt, und nichts von allem, was er über sie erfahren hatte, ließ einen gegenteiligen Verdacht aufkeimen. Ohnedies hatten die Ereignisse Signora Altavilla jeglicher Kritik enthoben, und es spielte keine wesentliche Rolle mehr, ob sie ein guter Mensch gewesen war oder nicht oder wer das von ihr behauptete.
    »Sie konnte sich einfühlen. Warum man gewisse Dinge tut.« Signora Sartori sprach ein so ausgeprägtes Venezianisch, dass jemand von außerhalb Mühe gehabt hätte, sie zu verstehen. [181]  Sie bekräftigte ihre Worte mit einem Nicken, einmal und noch einmal, aber ohne in Brunettis Richtung zu sehen. Dann sagte sie mit völlig veränderter Stimme: »Warum wir das tun mussten«, wobei die letzten Silben kaum noch zu hören waren.
    »Das ist manchmal schwer zu verstehen«, meinte Brunetti nur.
    »Wir wussten, warum«, sagte sie abwehrend.
    »Natürlich«, stimmte Brunetti zu.
    Jetzt drehte sie sich zu ihm um. »Sind Sie ein Freund von ihm?«
    Brunetti begnügte sich mit einem neutralen Brummen.
    »Hat er Sie geschickt?« Sie zog die Brauen hoch wie eine schlechte Schauspielerin, die zeigen will, dass sie nicht nur misstrauisch, sondern auch clever ist und jede Lüge durchschauen würde. Jetzt sah er sie zum ersten Mal von vorn, ihr rundes Gesicht und die vollen Lippen mit den zwei tiefen senkrechten Furchen daneben; eine dritte Falte verlief quer

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