Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe
korrekt, aber nicht immer. Im Lauf der Jahre hatte er gelernt, dass die negativen seltener zutrafen als die positiven: Es war zu einfach, sich von seiner Abneigung leiten zu lassen.
Aber wenn er eins hasste, dann waren es Grobiane. Ihr arrogantes Verhalten, und dass sie nichts anderes im Kopf hatten, als andere zu unterwerfen. Nur ein einziges Mal in seinem Berufsleben hatte er die Beherrschung verloren, vor fast zwanzig Jahren, bei der Vernehmung eines Mannes, der eine Prostituierte zu Tode getreten hatte. Seine Initialen waren in das leinene Taschentuch gestickt, mit dem er sich das Blut von den Schuhen gewischt und das er dann nicht weit von der Leiche der Frau weggeworfen hatte.
Für die Vernehmung des Mannes, eines Steuerberaters, der zusammen mit einem Zuhälter mehrere Mädchen auf den Strich geschickt hatte, waren zum Glück drei Beamte eingeteilt worden. Als sie ihn aufforderten, das Taschentuch als seines zu identifizieren, war keinem der Polizisten entgangen, dass er ein identisches Tuch in seiner Brusttasche trug.
Sobald dem Verhörten aufging, welche Konsequenzen die Sache mit den Taschentüchern für ihn haben konnte, erklärte er - von Mann zu Mann, also mal unter uns, Leute, nur damit ihr wisst, was für ein harter Kerl ich bin -: »Das war doch bloß ’ne Nutte. Hätte kein Leinentaschentuch an die verschwenden sollen.« An dieser Stelle sprang der jüngere, noch unerfahrene Brunetti auf und wollte ihm an die Gurgel. Klügere Kollegen warfen sich dazwischen und zogen [189] Brunetti auf seinen Stuhl zurück, wo er dann bis zum Ende des Verhörs schweigend sitzen blieb.
Das waren noch andere Zeiten damals, und sein Ausbruch blieb ohne juristische Folgen. Im heutigen Klima jedoch - käme es je zu einem Verfahren gegen den alten Mann - wäre ein unbedachter Schritt für jeden Verteidiger ein gefundenes Fressen, sowie sich herausstellte, was Brunetti von Beruf war.
Gedankenverloren ging Brunetti zur Questura zurück und dort direkt in Signorina Elettras Büro; sie las gerade, aber keine Zeitschrift wie sonst in müßigen Momenten, sondern ein Buch.
Signorina Elettra schob einen Zettel zwischen die Seiten und klappte das Buch zu. »Wenig zu tun heute?«, erkundigte er sich.
»So könnte man es nennen, Commissario«, antwortete sie und legte das Buch mit dem Titel nach unten neben ihren Computer.
Er trat vor ihren Schreibtisch. »Ich habe heute eine der Frauen kennengelernt, die Signora Altavilla in der casa di cura oft besucht hat ...«
»... und möchte Sie bitten, einmal nachzusehen, was wir über sie herausfinden können«, beendete sie den Satz für ihn, als könne sie seine Gedanken lesen; aber seine Stimme imitierte sie nicht.
»Ist das so offensichtlich?«, fragte er lächelnd.
»Sie haben dann immer diesen Raubtierblick.«
»Und weiter?«
»Normalerweise beschränken Sie sich nicht auf eine einzelne Person, Signore, also werde ich auch nachsehen, was ich [190] über ihren Mann und womöglich vorhandene Kinder herausfinden kann.«
»Sartori. Ihren Vornamen weiß ich nicht, und ich weiß auch nicht, wie lange sie schon dort ist. Aber bestimmt schon ein paar Jahre. Ihr Mann ist ein cholerischer Hitzkopf. Wie er heißt, weiß ich nicht, und von Kindern weiß ich auch nichts.«
»Meinen Sie, sie ist da als Privatpatientin?«, fragte Signorina Elettra zu seiner Verwunderung.
»Ich habe keine Ahnung«, sagte er. Er vergegenwärtigte sich - ein gewöhnliches Zimmer in einem Altersheim. Keine Spur von Luxus, keine persönlichen Gegenstände. »Warum? Was macht das für einen Unterschied?«
»Wäre sie auf Staatskosten da, würde ich mir als Erstes die amtlichen Unterlagen vornehmen, bei einer Privatpatientin könnte ich mir Zugang zu den Akten der casa di cura verschaffen.« Allein das Wort »Zugang« von den Lippen Signorina Elettras versetzte Brunetti in einen Zustand ähnlich dem eines Kaninchens beim Anblick einer Boa Constrictor.
»Was wäre einfacher?«, fragte er, wobei er Wörter wie »Zugang« oder »verschaffen« bewusst vermied.
»Die casa di cura natürlich«, sagte sie mit der Herablassung eines Schwergewichtschampions, der von einem Türsteher herausgefordert wird.
»Und das andere?«, fragte er, neugierig wie immer, wie viel Wert der Staat auf den Schutz und die Exaktheit der Informationen legte, die er über seine Bürger besaß.
Über die Frage konnte sie nur seufzend den Kopf schütteln. »Bei Regierungsstellen«, sagte sie abfällig, »besteht das Problem nicht
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