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Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe

Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe

Titel: Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
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und setzte ein Lächeln auf, das kokett sein sollte, »Sie könnten mich zum Beispiel noch einmal besuchen.«
    »Sie haben recht, Signora«, sagte Brunetti und reichte ihr die Hand. Sie hielt sie lange fest, und Brunetti überkam so etwas wie Mitgefühl. »Ich werde sehen, was ich tun kann.«
    Ihr aufgeweckter Blick sagte ihm, dass sie beide sich nicht von seinen Worten täuschen ließen, aber entschlossen waren, ihre Rollen bis zum Ende der Szene weiterzuspielen. »Ich freue mich darauf«, sagte sie, zog ihre Hand zurück und legte sie zu der anderen in ihren Schoß.
    Brunetti lächelte. Ihm war klar, dass er jetzt nicht einfach zu dem anderen Tisch gehen und mit Signora Sartori sprechen konnte, die sich, seit sie mit ihrem Kuchen fertig war, nicht von der Stelle gerührt hatte. Er ging auf den Flur hinaus [170]  Richtung Küche. Eine Novizin kam ihm mit einem großen Tablett entgegen.
    »Entschuldigen Sie«, sagte er, unsicher, wie er sie anreden sollte, »könnten Sie mir sagen, wo ich Dottor Grandesso finde?«
    »Oh, der wohnt am Ende des Flurs, Signore, die letzte Tür rechts.« Sie sah an ihm vorbei und zeigte dorthin, als fürchte sie, er könne ihrer Wegbeschreibung nicht folgen.
    »Vielen Dank«, sagte Brunetti und machte sich auf den Weg. Die letzte Tür rechts war zu, also klopfte er an. Er klopfte noch einmal, und da nichts geschah, machte er die Tür vorsichtig auf und rief ins Zimmer: »Dottor Grandesso?«
    Er vernahm ein Geräusch. Vielleicht ein Wort, vielleicht ein Knurren, auf jeden Fall etwas, das Brunetti eindeutig als Einladung auffasste. Also trat er ein und sah als Erstes ein Bett und auf dem Kopfkissen einen Schädel. Doch an dem Schädel klebten Haarbüschel und faltige Haut. Die Decke spannte sich über eine schmale längliche Gestalt, am unteren Ende bildeten die Füße eine winzige Bischofsmitra. Und da waren auch Augen auf ihn gerichtet. Sie blinzelten nicht und regten sich nicht, stellten lediglich eine Verbindung zwischen ihm und dem Schädel her. Brunetti erkannte den Geruch wieder, den er im Zimmer seiner Mutter kennengelernt hatte.
    »Dottor Grandesso?«, fragte Brunetti.
    » Si «, antwortete der Schädel, ohne die Lippen zu bewegen, aber mit überraschend volltönender Stimme.
    »Ich bin ein Freund von Signora Altavillas Sohn. Er hat mich gebeten, mit den Schwestern und auch mit den Leuten [171]  zu sprechen, die seine Mutter am besten gekannt haben. Das heißt, falls es Ihnen nicht unangenehm ist.«
    Die Augen blinzelten. Oder genauer, sie fielen zu, und als sie nach geraumer Zeit wieder aufgingen, hatten sie sich in die Augen eines Lebenden verwandelt und einen schmerzlichen Ausdruck angenommen. »Was ist passiert?«, fragte er mit seiner tiefen Stimme.
    Als Brunetti sich dem Bett näherte, fühlte er sich förmlich durchbohrt von Dottor Grandessos Blicken, deren Intensität so gar nicht zu der leblos dort liegenden Gestalt zu passen schien. »Sie ist an einem Herzversagen gestorben«, sagte Brunetti. »Laut Obduktionsbericht ist es sehr schnell gegangen, so dass sie, wenn überhaupt, nur für kurze Zeit Schmerzen erlitten hat.«
    »Rizzardi?«, fragte der Mann zu Brunettis Verblüffung.
    »Ja. Sie kennen ihn?« Brunetti hatte nicht bedacht, dass Grandessos Doktortitel der eines Arztes sein konnte.
    »Ich habe von ihm gehört. Früher, als ich noch gearbeitet habe. Zuverlässiger Mann«, sagte er. Jetzt bewegten sich seine Lippen beim Sprechen, und er sah Brunetti aufmerksam an, aber die Furchen in seinen Wangen blieben starr, der Ausdruck kam allein aus seinen Augen.
    Seine Bemerkung über Rizzardi war überzeugend sachlich und anerkennend gewesen, wenn man auch kaum glauben mochte, dass solcher Nachdruck aus einem so ausgezehrten Körper kam. Jetzt schloss er die Augen wieder - schon wich alles Lebendige von ihm, und nichts blieb zurück als jener Schädel und die leblosen Stöcke unter der Bettdecke.
    Um nicht zu stören, wollte Brunetti sich abwenden, doch das Fenster neben dem Bett ging auf eine schmale calle, und [172]  er sah nur eine Hausmauer und Fensterläden. Er starrte so lange darauf, bis der Dottore fragte: »Haben Sie sie gekannt?« Leben und Interesse waren in seine Augen zurückgekehrt.
    »Nein«, antwortete Brunetti, »nur ihren Sohn. Ich war bei ihm, als Rizzardi ...« Unschlüssig ließ er den Satz in der Luft hängen.
    »Er hat mich gebeten, mit den Schwestern hier zu sprechen«, begann er von neuem. »Er sagte, seine Mutter sei immer sehr gern

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