Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe
hierhergekommen. Und nachdem ich mit der Oberin gesprochen hatte, wollte ich auch noch die Leute kennenlernen, die sie besonders ins Herz geschlossen hatte.«
»Hat der Sohn unsere Namen gekannt?«, fragte er, und Brunetti hörte, wie erfreut er war.
Ihm lag die Lüge schon auf der Zunge, doch er brachte es nicht über sich. Stattdessen sagte er: »Das weiß ich nicht. Ich bin zu Ihnen gekommen, nachdem ich mit der Oberin gesprochen habe. Sie hat mir Ihren Namen genannt.«
Der Mann im Bett wandte den Kopf ab, eine Bewegung, die Brunetti überraschte. Aber seine Augen blieben offen, das völlige Verschwinden alles Lebendigen aus seinem Gesicht wiederholte sich nicht.
Dann sah er Brunetti wieder an und fragte ruhig: »Was möchten Sie wissen?«
Brunetti überlegte kurz, ob er vielleicht fragen sollte, wie er das meinte. Aber Dottor Grandesso sah ihn unverwandt an, und Brunetti erkannte, dass dieser Mann keine Zeit zu verschwenden hatte. Und dies war keine hohle Redensart. Der Doktor hatte eine Verabredung - nicht mit ihm und keine, die irgendjemand einhalten wollte, vor der sich aber niemand drücken konnte.
[173] »Ich möchte wissen, ob jemand Anlass gehabt haben könnte, ihr Schaden zuzufügen«, sagte Brunetti. Als er sich so reden hörte, überlief es ihn eiskalt, als habe man ihn aufgefordert, diesem Mann eine Münze in den Mund zu legen - als Bezahlung für seine Reise in die andere Welt -, oder schlimmer, als habe er ihm eine schwere Last aufgeladen, die er mit sich nehmen sollte.
»Wenn ich in der Lage wäre, Rizzardi anzurufen, würde er mir sagen, dass sie an einem Herzversagen gestorben ist?«, fragte der Doktor.
»Ja.«
Grandesso sah aus dem Fenster, als könnten die geschlossenen Fensterläden auf der anderen Seite der calle ihm weiterhelfen. »Sie sind kein religiöser Mensch, oder?«
»Nein.«
»Aber Sie sind fromm erzogen worden?«
»Ja«, musste Brunetti zugeben.
»Dann erinnern Sie sich an das Gefühl nach der Beichte - solange Sie noch daran geglaubt haben. Es war ein Hochgefühl - wenn man so sagen kann -, Scham und Schuld waren Ihnen genommen worden. Der Priester sprach seine Worte, Sie sprachen Ihre Gebete, und irgendwie war Ihre Seele wieder sauber und rein.«
Brunetti nickte. Ja, er erinnerte sich daran und war klug genug, über diese Erfahrung froh zu sein.
Der andere sah ihm unentwegt ins Gesicht und fuhr fort: »Ich weiß, es klingt seltsam, aber sie besaß eine ähnliche Fähigkeit, bei ihr konnte man sich erleichtern. Sie hörte zu, saß einfach lächelnd neben mir, hielt manchmal meine Hand, und ich erzählte ihr Sachen, die ich seit dem Tod meiner [174] Frau keinem Menschen mehr anvertraut habe.« Er verzog sich hinter seine Augenlider, und als er zurückkam, sagte er: »Und sogar einiges, was ich meiner Frau auch zu Lebzeiten nie zu erzählen vermochte. Sie drückte mir dann einfach die Hand, und ich war froh, dass ich das endlich einmal loswerden konnte.« Der Doktor versuchte, eine Hand zu heben, bekam sie aber nur ein paar Zentimeter weit hoch, bevor sie wieder aufs Bett sank. »Sie selbst stellte keine Fragen, schien kein bisschen sensationslüstern, und vielleicht hat gerade ihr Schweigen mich dazu gebracht, so offen zu sein. Sie hat sich nie ein Urteil erlaubt, sich niemals überrascht oder missfällig geäußert. Sie hat nur dagesessen und zugehört.«
Brunetti hätte am liebsten gefragt, was er ihr denn erzählt habe. Aber das ging nicht, aus Respekt vor dem alten Mann, wie er sich sagte, tatsächlich aber wusste er, dass ihn so etwas wie ein religiöses Tabu davon abhielt, in das Beichtgeheimnis einzudringen. Also fragte er nur: »Glauben Sie, dass sie jedem so zugehört hat?«
Ein Anflug eines Lächelns huschte über Grandessos Gesicht, aber seine Lippen waren zu schmal, als dass es sich darauf hätte zeigen können. »Sie meinen, ob ich glaube, dass alle sich ihr anvertraut haben?«
»Ja.«
»Das kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Die Menschen sind verschieden. Aber bekanntermaßen reden alte Leute gern, vor allem über sich selbst. Uns selbst.«
Er fuhr fort: »Ich habe die anderen beobachtet und unbefangen mit ihr reden sehen. Und wenn sie die Fähigkeit hatte, einen sozusagen freizusprechen, dann ...« Er verstummte.
[175] Brunetti konnte seine Neugier nicht mehr zügeln. »Und haben Sie das geglaubt?«
Er versuchte, den Kopf zu bewegen, und als ihm das nicht gelang, sagte er: »Nein.«
»Warum?«
»Weil ich wie Sie, Signore«, sagte er, und
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