Commissario Montalbano 06 - Der Kavalier der späten Stunde
einstellte. War das nicht eine feine Fassade für einen Betrüger? Und für jeden Mann, Betrüger oder nicht, ist es praktisch, eine verliebte Frau bei der Hand zu haben.«
Er glaubte sich zu erinnern, dass die Agentur um halb sechs Uhr schloss. Über dem Gespräch mit Signora Clementina hatte er die Zeit ganz vergessen. Er dankte, verabschiedete sich, versprach, bald wiederzukommen, setzte sich ins Auto und fuhr los. War die Agentur vielleicht doch schon geschlossen? Als er bei der »König Midas« vorfuhr, sah er, dass Mariastella die Eingangstür schon zugemacht hatte und, anscheinend auf der Suche nach dem Schlüssel, in der Handtasche kramte. Fast sofort fand er einen Parkplatz. Er stellte das Auto ab und stieg aus. Und von da an war alles so, wie wenn ein Film in Zeitlupe abgespult wird. Mariastella wollte die Straße überqueren, sie hielt den Kopf gesenkt, sah nicht nach rechts und nicht nach links. Und plötzlich blieb sie stehen, ausgerechnet als ein Auto daherkam. Montalbano hörte es bremsen, sah, wie das Auto die Frau ganz langsam voll erfasste und sie, ebenso extrem langsam, zu Fall brachte. Der Commissario rannte los, und alles kehrte zu seinem normalen Rhythmus zurück.
Der Autofahrer stieg aus und beugte sich über Mariastella, die auf dem Boden lag, sich aber bewegte und aufzustehen versuchte. Leute liefen herbei. Der Fahrer, ein ziemlich eleganter Mann um die sechzig, war zu Tode erschrocken und ganz blass.
»Sie ist einfach stehen geblieben! Ich dachte.«
»Tut es sehr weh?«, fragte Montalbano Mariastella und half ihr aufzustehen. Und zu den anderen gewandt: »Gehen Sie weiter! Es ist ja nichts passiert!« Die Leute, die den Commissario erkannt hatten, entfernten sich. Doch der Fahrer rührte sich nicht vom Fleck. »Was wollen Sie?«, fragte Montalbano ihn und bückte sich nach der Handtasche.
»Was heißt hier, was wollen Sie? Ich will die Signora ins Krankenhaus bringen!«
»Ich gehe nicht ins Krankenhaus, ich habe mir nichts getan«, sagte Mariastella entschieden und blickte den Commissario hilfesuchend an.
»O nein!«, sagte der Signore. »Es war nicht meine Schuld! Ich verlange einen medizinischen Befund!«
»Wozu denn?«, fragte Montalbano.
»Wenn Gras über die Sache gewachsen ist, könnte es sein, dass diese Signora hier behauptet, sie hätte mehrere Knochenbrüche gehabt, und dann kriege ich Scherereien mit der Versicherung!«
»Wenn Sie nicht innerhalb einer Minute verschwunden sind«, sagte Montalbano, »schlag ich Ihnen die Fresse ein, und dann bringen Sie mir den medizinischen Befund.« Der Mann sagte keinen Ton, setzte sich ins Auto und fuhr mit quietschenden Reifen los, was er wahrscheinlich noch nie im Leben gemacht hatte, aber diesmal konnte er vor Schreck nicht anders.
»Danke«, sagte Mariastella und gab ihm die Hand. »Auf Wiedersehen.«
»Was haben Sie vor?«
»Ich fahre mit meinem Auto nach Hause.«
»Kommt gar nicht in Frage! In Ihrem Zustand können Sie sich nicht ans Steuer setzen. Merken Sie nicht, wie Sie zittern?«
»Ja, aber das ist normal. Es ist bald vorbei.«
»Hören Sie zu, ich habe Ihnen geholfen, dass Sie nicht ins Krankenhaus müssen. Aber jetzt müssen Sie tun, was ich sage. Ich bringe Sie mit meinem Wagen nach Hause.«
»Ja, aber wie komme ich dann morgen früh ins Büro?«
»Ich verspreche Ihnen, dass jemand von meinen Leuten Ihnen Ihr Auto bis heute Abend vor die Haustür stellen wird. Geben Sie mir jetzt gleich den Schlüssel, dann vergessen wir es nicht. Es ist der gelbe Cinquecento, nicht wahr?« Mariastella Cosentino holte den Schlüssel aus der Hand tasche und gab ihn dem Commissario. Sie gingen zu Montalbanos Auto, Mariastella schleppte das linke Bein etwas nach und zog auf derselben Seite die Schulter hoch, eine Haltung, die ihr vielleicht weniger Schmerzen bereitete. »Wollen Sie sich einhängen?«
»Nein, danke.«
Höflich und bestimmt. Sie am Arm des Commissario - was sollten denn die Leute denken, wenn sie sie so innig mit einem Mann sahen?
Montalbano hielt ihr die Autotür auf, und sie stieg langsam und vorsichtig ein. Anscheinend hatte es sie bös erwischt. Frage: Was wäre die Pflicht von Commissario Montalbano gewesen?
Antwort: das Unfallopfer ins Krankenhaus zu bringen. Frage: Warum tat er es dann nicht?
Antwort: Weil Dottor Salvo Montalbano, eine als Kriminalpolizist verkleidete Schlange, von diesem Zustand der Verwirrung bei Signorina Mariastella Cosentino profitieren wollte, um ihre
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