Commissario Montalbano 06 - Der Kavalier der späten Stunde
sehr beeindruckt oder vielleicht verstört, dass sie sich in sein Gedächtnis eingeprägt hatten. Er hatte sie vergessen, doch jetzt meldeten sie sich mit Gewalt zurück. Und plötzlich begriff er. Er begriff und versank in eine Art Angst, die er nie im Leben gefühlt hatte und von der er nie gedacht hätte, dass man sie fühlen könnte. Er hatte begriffen, dass er in einer Erzählung lebte. Er war in eine Erzählung von Faulkner hineinversetzt worden, die er Jahre zuvor gelesen hatte. Wie war das möglich? Aber jetzt war nicht der Augenblick für Erklärungen. Die einzige Möglichkeit war, diese Erzählung weiterzulesen und weiterzuleben, zu dem schrecklichen Ende zu kommen, das er bereits kannte. Etwas anderes konnte er nicht tun. Er stand auf. »Ich will, dass Sie mir Ihr Haus zeigen.« Mariastella sah ihn überrascht und auch ein bisschen verärgert an, weil er so grob Gehorsam von ihr verlangte. Aber sie hatte nicht den Mut, Nein zu sagen. »Gut«, sagte sie und erhob sich mühselig. Sicher machte sich der eigentliche Schmerz von dem Sturz allmählich bemerkbar. Als sie Montalbano auf einem langen Flur vorausging, zog sie eine Schulter viel höher als die andere und hielt den Arm mit einer Hand fest. Sie öffnete die erste Tür links. »Das ist die Küche.«
Sehr groß, geräumig, aber selten benutzt. An einer Wand hingen große und kleine Kupfertöpfe, fast weiß von dem Staub, der sich auf ihnen abgelagert hatte. Sie öffnete die Tür gegenüber. »Das ist das Esszimmer.«
Dunkle, massive Möbel aus Nussbaum. Es war in den letzten dreißig Jahren wahrscheinlich nur ein-, höchstens zweimal benutzt worden. Die Tür wurde wieder geschlossen. Sie gingen ein paar Schritte weiter. »Da links ist das Bad«, sagte Mariastella. Aber sie öffnete es nicht. Sie ging noch drei Schritte weiter und blieb dann vor einer verschlossenen Tür stehen. »Hier ist mein Schlafzimmer. Aber es ist nicht aufgeräumt.« Sie wandte sich zu der Tür gegenüber. »Das ist das Gastzimmer.«
Sie öffnete die Tür, streckte den Arm aus, schaltete das Licht ein und trat auf die Seite, um den Commissario vorzulassen. Ein dünner, ätzender Grabeshauch schien gleich einem Leichentuch über dem ganzen Zimmer zu liegen… Und Montalbano sah sofort, was zu sehen er schon erwartete. Auf einem Stuhl hing, sorgsam gefaltet, der Anzug; darunter standen die beiden stummen Schuhe und die abgestreiften Socken.
Der Mann aber lag im Bett, das braun war von geronnenem Blut; er war sorgfältig in Plastikfolie eingewickelt und noch sorgfältiger mit Klebeband verpackt. Emanuele Gargano.
»Sonst gibt es nichts zu sehen«, sagte Mariastella Cosentino, während sie das Licht im Gastzimmer löschte und die Tür wieder schloss. Mit ihrem vollends schiefen Gang schleppte sie sich durch den Flur zurück zum Salon, während Montalbano dastand, vor der geschlossenen Tür, unfähig, sich zu rühren, einen Schritt zu tun. Mariastella hatte den Toten nicht gesehen. Für sie existierte er nicht, lag nicht auf diesem blutverschmierten Bett, sie hatte ihn vollkommen verdrängt. Wie so viele Jahre zuvor ihren Vater. Der Commissario spürte in seinem Kopf ein Sturmbrausen, er trieb in den Wirbel, vermochte keinen Satz festzuhalten, keine zwei Wörter, die, hintereinander gesetzt, einen vollendeten Sinn ergaben. Dann hörte er ein Wimmern, eine Art Winseln wie von einem verletzten Tier. Es gelang ihm, einen Schritt zu tun, sich mit einem beinah schmerzhaften Ruck aus der Lähmung zu lösen, und er lief schnell in den Salon. Mariastella saß in einem Sessel, sie war blass geworden, mit einer Hand hielt sie sich die Schulter, ihre Lippen zitterten. »O Gott, jetzt habe ich solche Schmerzen!«
»Ich hole einen Arzt«, sagte der Commissario und klammerte sich an diesen Augenblick von Normalität.
»Rufen Sie Dottor La Spina an«, sagte Mariastella. Der Commissario kannte ihn, La Spina war Anfang sechzig und praktizierte nicht mehr, nur Freunde behandelte er. Montalbano lief in die Diele, das Telefonbuch lag neben dem Telefon. Er hörte Mariastella immerzu wimmern. »Dottor La Spina? Hier ist Montalbano. Kennen Sie Signorina Mariastella Cosentino?«
»Natürlich, sie ist meine Patientin. Was ist passiert?«
»Sie wurde angefahren. Eine Schulter tut ihr sehr weh.«
»Ich komme sofort.«
Und da fiel ihm die Lösung ein, nach der er krampfhaft gesucht hatte. Er senkte die Stimme und hoffte, dass der Arzt nicht taub war.
»Hören
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