Commissario Montalbano 06 - Der Kavalier der späten Stunde
Clementina? Wenn ja, wäre alles einfacher.
»Warte einen Augenblick«, sagte er zu Fazio. »Ich muss telefonieren.«
Signora Clementina zeigte sich glücklich, Montalbanos Stimme zu hören.
»Seit wann haben Sie mich nicht mehr besucht, Sie schlechter Mensch?«
»Sie müssen verzeihen, Signora, aber die Arbeit… Sagen Sie, Signora, sind Sie zufällig mit Carmela Vasile Cozzo verwandt, der Mutter von Signorina Mariastella?«
»Natürlich. Cousinen ersten Grades, unsere Väter waren Brüder. Warum fragen Sie?«
»Signora Clementina, störe ich, wenn ich vorbeikomme?«
»Sie wissen genau, wie sehr es mich freut, Sie zu sehen. Leider kann ich Sie nicht zum Mittagessen einladen, mein Sohn, seine Frau und mein kleiner Enkel sind da. Aber wenn Sie am Nachmittag gegen vier Uhr kommen wollen.«
»Danke. Bis später.«
Er legte auf und sah Fazio nachdenklich an.
»Weißt du was? Ich brauche dich nicht mehr. Erzähl nur noch, ob es Gerüchte über Mariastella gibt.«
»Was soll es denn für Gerüchte geben? Abgesehen davon, dass sie bis über beide Ohren in Gargano verknallt war. Aber es heißt auch, dass nie was Konkretes zwischen ihnen war.«
»In Ordnung, du kannst gehen.« Fazio ging grummelnd hinaus.
»Um einen ganzen Vormittag hat mich der gute Mann gebracht!«
In der Trattoria »San Calogero« aß er so lustlos, dass sogar der Wirt es merkte. »Haben wir Sorgen?«
»Schon.«
Er verließ die Trattoria und machte einen Spaziergang auf der Mole bis vor zum Leuchtturm.
Er setzte sich auf seinen gewohnten Felsen und steckte sich eine Zigarette an. Er wollte an nichts denken, er wollte nur dasitzen und das Wasser zwischen den Felsen schwappen hören. Aber Gedanken kommen auch, wenn man alles tut, um sie fernzuhalten. In dem Gedanken, der ihm kam, ging es um den gefällten Olivenbaum. Ja, jetzt blieb ihm nur noch der Felsen als Refugium. Montalbano saß zwar unter freiem Himmel, aber plötzlich hatte er ein merkwürdiges Gefühl von zu wenig Luft, als wäre der Raum für sein Leben plötzlich eingeengt. Und zwar sehr.
Signora Clementina fing an zu erzählen, nachdem sie im Wohnzimmer Espresso getrunken hatten. »Meine Cousine Carmela war sehr jung, als sie Angelo Cosentino heiratete, der gebildet, freundlich und umgänglich war. Sie bekamen nur ein Kind, Mariastella. Sie war meine Schülerin, sie war sehr eigen.«
»Inwiefern?«
»Sie war so verschlossen, zurückhaltend, fast abweisend. Abgesehen davon war sie auch sehr steif. Sie machte in Montelusa ihr Diplom als Buchhalterin. Sie war erst fünfzehn, als sie ihre Mutter verlor, und das hat sich, glaube ich, sehr negativ auf sie ausgewirkt. Seitdem kümmerte sie sich um den Vater. Sie ging überhaupt nicht mehr aus dem Haus.«
»Ging es ihnen finanziell gut?«
»Sie waren nicht reich, aber arm wohl auch nicht. Fünf Jahre nach Carmelas Tod starb auch Angelo. Da war Mariastella zwanzig Jahre alt, sie war kein Kind mehr. Aber sie benahm sich so.«
»Was tat sie?«
»Nun, als ich erfuhr, dass Angelo gestorben war, besuchte ich Mariastella. Es kamen noch andere Leute, Männer und Frauen. Mariastella ging uns entgegen, gekleidet wie immer, sie hatte auch nicht schwarz getragen, als die Mutter gestorben war. Ich war ihre engste Verwandte und umarmte und tröstete sie. Sie löste sich von mir und sah mich an: >Wer ist tot?<, fragte sie. Mir wurde es eiskalt, mein Freund. Sie wollte nicht glauben, dass ihr Vater tot war. So ging das.«
»- drei Tage lang«, sagte Montalbano.
»Woher wissen Sie das?«, fragte Signora Clementina Vasile Cozzo überrascht.
Der Commissario war noch mehr überrascht.
»Glauben Sie mir, wenn ich sage, dass ich das nicht weiß?«
»Das dauerte also drei Tage. Alle redeten wir ihr zu: der Pfarrer, der Doktor, ich, die Leute vom Bestattungsinstitut. Nichts zu wollen. Die Leiche des armen Angelo lag da auf dem Bett, und Mariastella weigerte sich, sie den Totengräbern zu überlassen. Dann.«
»… als Sie beschlossen hatten, Zwangsmaßnahmen zu ergreifen, lenkte sie ein«, sagte Montalbano.
»Na ja«, meinte Signora Vasile Cozzo. »Wenn Sie die Geschichte schon kennen, wieso soll ich sie Ihnen dann erzählen?«
»Glauben Sie mir, ich kenne sie nicht«, sagte der Commissario, dem das unangenehm war. »Aber es ist, als wäre mir diese Geschichte schon mal erzählt worden. Ich kann mich nur nicht erinnern, wie und wo und warum. Sollen wir ein Experiment machen? Wenn ich Sie jetzt frage: >Dachten Sie damals,
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