Commissario Montalbano 08 - Die Passion des stillen Rächers
Doch Mistretta schien nichts gehört zu haben.
»Wieso reden Sie im Plural?«, fragte er ganz ruhig wie ein Lehrer, der einen kleinen Fehler im Aufsatz anstreicht.
»Ein einzelner Mann hat sie vergiftet.«
»Und Sie wissen seinen Namen?«
»Natürlich«, sagte er lächelnd.
Nein, bei genauerem Hinsehen lag kein Lächeln auf Mistrettas Gesicht, sondern ein Grinsen. Ein höhnisches Grinsen. »Warum haben Sie ihn nicht angezeigt?«
»Weil er sich nicht im Sinn des Gesetzes strafbar gemacht hat. Nur bei unserem Herrgott könnte man ihn anzeigen, wenn man an ihn glaubt, aber der weiß sowieso alles.«
Montalbano fing an zu begreifen.
»Wenn Sie sagen, die Signora sei vergiftet worden, dann ist das eine Metapher, nicht wahr?«
»Sagen wir mal, ich halte mich nicht an streng wissenschaftliche Begriffe. Ich verwende Wörter und Ausdrücke, die ich als Arzt nicht benutzen dürfte. Aber Sie sind ja nicht hier, um einen Befund zu hören.«
»Und was soll die Signora vergiftet haben?«
»Das Leben. Wie Sie sehen, verwende ich weiterhin Wörter, die in einer Diagnose nichts verloren haben. Das Leben. Oder vielmehr: Jemand hat sie grausam gezwungen, einen qualvollen Lebensweg zu gehen, und irgendwann hat Giulia sich geweigert, diesen Weg weiter zu beschreiten. Sie hat jede Abwehr, jeden Widerstand aufgegeben und sich einfach gehen lassen.«
Carlo Mistretta war gut im Reden. Aber der Commissario brauchte Fakten und keine erlesenen Phrasen.
»Verzeihen Sie, Dottore, aber ich muss einfach mehr wissen. Hat ihr Mann, möglicherweise ohne es zu wollen …«
Carlo Mistrettas Lippen gaben knapp die Zähne frei. Aber das war seine Art zu lächeln.
»Mein Bruder? Sie scherzen! Für seine Frau würde er sein Leben geben. Wenn Sie die ganze Geschichte kennen, werden Sie sehen, dass das ein absurder Verdacht ist.«
»Ein Liebhaber?«
Mistretta wirkte benommen.
»Hm?«
»Ich meinte, ein anderer Mann, eine enttäuschte Liebe, entschuldigen Sie, aber …«
»Ich glaube, mein Bruder war der einzige Mann in Giulias Leben.«
Montalbano verlor die Geduld. Er hatte das Versteckspiel satt. Außerdem war ihm Carlo Mistretta nicht übermäßig sympathisch. Er wollte schon den Mund aufmachen und anfangen, weniger respektvolle Fragen zu stellen, da hob Mistretta die Hand, als hätte er Montalbanos Unruhe gespürt.
»Der Bruder«, sagte er.
Himmel! Wo kam denn dieser Bruder jetzt her? Und wessen Bruder eigentlich?
Er hatte es ja gleich gewusst, dass er bei dieser Geschichte mit so vielen Brüdern, Onkeln, Schwägern und Nichten irgendwann nicht mehr durchblicken würde.
»Giulias Bruder«, fuhr der Doktor fort.
»Die Signora hat einen Bruder?«
»Ja. Antonio.«
»Und warum …«
»Er hat in diesen schlimmen Tagen nichts von sich hören lassen, weil sie schon lange keine Verbindung mehr miteinander haben. Schon sehr lange.«
Da passierte etwas, was Montalbano auch bei anderen Ermittlungen manchmal erlebt hatte. Und zwar fügten sich plötzlich in seinem Gehirn einige scheinbar nicht zusammenpassende Details ineinander, jedes Teilchen fand seinen Platz in dem Puzzle. Das geschah, noch bevor er es richtig merkte. Deshalb sagte Montalbanos Mund fast ohne sein Zutun:
»Sagen wir, seit sechs Jahren?«
Mistretta sah ihn überrascht an.
»Sie wissen schon alles?«
Montalbano machte eine Handbewegung, die nichts zu bedeuten hatte.
»Nein, nicht seit sechs Jahren«, präzisierte Mistretta. »Aber vor sechs Jahren hat alles angefangen. Sie müssen wissen, dass meine Schwägerin Giulia und ihr drei Jahre jüngerer Bruder Antonio als Kinder ihre Eltern verloren haben. Sie kamen bei einem Zugunglück ums Leben. Sie hatten etwas Grundbesitz. Ein unverheirateter Onkel mütterlicherseits nahm die Kinder zu sich, er hat sie immer liebevoll behandelt. Wie das bei Waisenkindern häufig der Fall ist, hingen Giulia und Antonio sehr aneinander. Giulia war gerade sechzehn geworden, als ihr Onkel starb. Sie hatten wenig Geld, und Giulia ging von der Schule ab, um als Verkäuferin zu arbeiten, damit Antonio weiter die Schule besuchen und später studieren konnte. Salvatore, mein Bruder, lernte sie kennen, als sie zwanzig war, und verliebte sich in sie. Das heißt, sie verliebten sich ineinander. Aber Giulia wollte erst heiraten, wenn Antonio fertig studiert und eine Arbeit gefunden hatte. Sie nahm von ihrem zukünftigen Mann nicht die kleinste finanzielle Hilfe an, sie machte alles selbst. Dann wurde Antonio Ingenieur, fand eine gute Stelle, und so
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