Commissario Montalbano 08 - Die Passion des stillen Rächers
mit Signora Mistretta zu sprechen. Aber in welchem Zustand war die Kranke? Und wie sollte er seine Fragen rechtfertigen, wo die Signora von der Entführung ihrer Tochter gar nichts wusste? Da konnte am besten Dottor Mistretta weiterhelfen. Montalbano sah auf die Uhr. Es war zwanzig vor acht.
Er rief Livia an, um ihr zu sagen, dass er nicht rechtzeitig zum Abendessen kommen würde. Da er keine Zeit zum Streiten hatte, schluckte er wortlos ihre wütende Antwort:
»Dass man aber auch nie pünktlich abendessen kann!«
Wieder klingelte das Telefon: Gallo war dran. Das Krankenhaus Montelusa hatte Mimì zur Beobachtung dabehalten.
Pünktlich wie eine Schweizer Uhr erreichte er Schlag acht die erste Tankstelle an der Straße nach Fela, aber von Dottor Mistretta keine Spur. Zehn Minuten und zwei Zigaretten später machte sich der Commissario allmählich Gedanken.
Ärzte sind immer unpünktlich. Wenn man einen Termin in der Praxis hat, lassen sie einen mindestens eine Stunde warten; ist man außerhalb mit ihnen verabredet, kommen sie ebenfalls eine Stunde zu spät, weil angeblich in letzter Minute ein Patient gekommen ist.
Dottor Mistretta hielt mit seinem Geländewagen nur eine halbe Stunde zu spät neben Montalbanos Auto.
»Tut mir Leid, aber in letzter Minute ist ein Patient …«
»Schon gut.«
»Fahren Sie mir nach?«
Sie starteten, einer voraus, der andere hinterher. Und so fuhren sie weiter und weiter, verließen die Nationalstraße, verließen die Landstraße, bogen in Feldwege ein. Schließlich hielten sie vor dem verschlossenen Tor einer einsam gelegenen Villa, die um einiges größer und gepflegter war als die des Bruders. Sie war ringsum von einer hohen Mauer umgeben. Fühlten sich die Mistrettas ohne solche Landsitze minderwertig? Mistretta stieg aus, öffnete das Tor, fuhr mit dem Auto hinein und winkte Montalbano, ihm zu folgen.
Sie parkten in der Einfahrt neben dem Garten. Der war nicht ganz so verwahrlost wie der Garten der anderen Villa, aber es fehlte nicht viel.
Rechts war ein großer flacher Bau zu sehen, vielleicht ein ehemaliger Stall. Mistretta öffnete die Haustür, schaltete das Licht ein und bat den Commissario in einen großen Salon.
»Entschuldigen Sie mich bitte, ich mache nur rasch das Tor zu.«
Man sah, dass er keine Familie hatte und allein lebte. Der Salon war sorgfältig eingerichtet und gepflegt, eine ganze Wand war mit einer prächtigen Sammlung von Hinterglasbildern behängt. Montalbano war verzaubert von den lebhaften Farben, den naiven und zugleich raffinierten Arbeiten. Eine andere Wand war zur Hälfte mit Bücherregalen bestanden. Aber es befanden sich keine medizinischen oder sonstigen wissenschaftlichen Bücher darin, wie er vermutet hatte, sondern Romane.
»Bitte entschuldigen Sie«, sagte Mistretta, als er wiederkam, »darf ich Ihnen etwas anbieten?«
»Nein, danke. Sie sind nicht verheiratet, Dottore?«
»Als junger Mann hatte ich nie die Absicht zu heiraten. Und dann stellte ich eines Tages fest, dass ich zu alt geworden war.«
»Und Sie leben allein hier?«
Mistretta lächelte.
»Ich weiß schon, was Sie meinen. Ein solches Landhaus ist zu groß für einen allein. Früher waren hier ringsum Weinberge und Olivenhaine. In dem Gebäude, das Sie nebenan gesehen haben, gibt es noch Kelterwannen, Weinkeller und Ölpressen, die schon lange nicht mehr benutzt werden … Das obere Stockwerk ist seit ewigen Zeiten verschlossen. Ja, ich lebe seit ein paar Jahren allein. Um den Haushalt kümmert sich eine Frau, die dreimal die Woche vormittags kommt. Und mit dem Essen komme ich schon zurecht.«
Er schwieg eine Weile.
»Oder ich esse bei einer Freundin. Früher oder später erfahren Sie es ja doch. Eine Witwe, mit der ich schon seit über zehn Jahren liiert bin. Das ist alles.«
»Ich danke Ihnen, Dottore, aber eigentlich wollte ich etwas über die Krankheit Ihrer Schwägerin erfahren, natürlich nur, wenn Ihnen das recht ist …«
»Nun, Commissario, in dem Fall besteht für mich keine Schweigepflicht. Meine Schwägerin wurde vergiftet. Eine irreversible Vergiftung, die unweigerlich zum Tod führt.«
»Sie haben sie vergiftet?!«
Ein Schlag auf den Kopf, ein vom Himmel gefallener Stein, ein Hieb ins Gesicht. Diese so ruhig, fast emotionslos vorgebrachte Eröffnung traf den Commissario mit solcher Wucht, dass ihm die Ohren summten. Oder hatte da wirklich etwas gesummt? Hatte jemand an der Tür geklingelt? Schellte vielleicht das Telefon, das auf einem Regal stand?
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