Commissario Montalbano 08 - Die Passion des stillen Rächers
undefinierbaren Bildern, der ihm immer wieder durch den Kopf ging, überhaupt als Gedanken bezeichnen? Sein Geist kam ihm vor wie eine Empfangsstörung im Fernsehen, wenn ein Zickzackstreifen über den Bildschirm flimmert: Man kann nichts richtig erkennen, und zugleich drängt sich einem das blasse Bild eines anderen, parallel laufenden Programms auf, so dass man auf Knöpfen und Tasten herumdrücken muss, um den Grund für die Störung festzustellen und sie zu beseitigen.
Plötzlich wusste der Commissario nicht mehr, wo er war, das war nicht die gewohnte Landschaft auf dem Weg nach Marinella. Die Häuser sahen anders aus, ebenso die Geschäfte und die Menschen. O je, wo war er denn da gelandet? Bestimmt hatte er sich verfahren, war falsch abgebogen. Aber wie war das möglich, wo er diese Strecke seit Jahren mindestens zweimal täglich fuhr? Er hielt am Straßenrand, sah sich um, und dann verstand er. Ohne es zu wollen, ohne es zu merken, war er zur Mistretta-Villa gefahren. Seine Hände am Lenkrad, seine Füße an den Pedalen hatten sich für einen Moment selbständig gemacht, ohne dass er das Geringste gemerkt hätte. Das passierte ihm manchmal, sein Körper handelte dann nach eigenem Gutdünken, als sei er vom Gehirn unabhängig.
Und wenn es geschah, brauchte Montalbano sich gar nicht erst zu wehren, denn letztlich gab es immer einen Grund dafür. Was sollte er jetzt tun? Umkehren oder weiterfahren? Er fuhr natürlich weiter.
Als er den Salon betrat, standen sieben Personen um einen großen Tisch herum, der aus einer Ecke in die Mitte des Raums gerückt worden war, und hörten Minutolo zu. Auf dem Tisch lag eine riesige Karte von Vigàta und Umgebung, eine Militärkarte, auf der sogar die Strommasten verzeichnet waren und die Pfade, die nur Hunde und Ziegen zum Pinkeln benutzten.
In seinem Hauptquartier erteilte Oberbefehlshaber Minutolo die Befehle für eine zügigere und damit hoffentlich erfolgreiche Suche. Fazio saß auf seinem Stammplatz, er war mittlerweile verwachsen mit dem Sessel vor dem niedrigen Tisch mit dem Telefon und den dazugehörigen Apparaturen. Minutolo schien überrascht, als er Montalbano sah. Fazio machte Anstalten aufzustehen.
»Was gibt’s? Was ist passiert?«, fragte Minutolo.
»Gar nichts«, sagte Montalbano, der ja selbst überrascht war, in diesem Haus gelandet zu sein.
Einer der Kollegen grüßte ihn, er erwiderte flüchtig den Gruß.
»Ich gebe Anweisungen für …«, fing Minutolo an.
»Schon klar«, sagte Montalbano.
»Willst du dich dazu äußern?«, fragte Minutolo feundlich.
»Ja. Niemand schießt, unter keinen Umständen.«
»Darf ich fragen, warum?«
Die Frage hatte ein junger Mann gestellt, ein aufstrebender Vicecommissario, Locke in der Stirn, elegant, dynamisch, durchtrainiert und mit dem Gehabe des karrierebewussten Managers. Solchen Typen, einer sich schnell vermehrenden Rasse von Idioten, begegnete man immer häufiger. Er war Montalbano zutiefst unsympathisch.
»Weil einer wie Sie mal einen armen Kerl erschossen hat, der eine junge Frau entführt hatte. Sie wurde vergeblich gesucht, überall. Der Einzige, der hätte sagen können, wo sie gefangen gehalten wurde, konnte sich nicht mehr dazu äußern. Sie wurde einen Monat später gefunden, an Händen und Füßen gefesselt, verhungert und verdurstet. Zufrieden?«
Betretenes Schweigen. Was zum Teufel wollte er in der Villa? Wurde er alt, dass er seine Runden drehte wie eine Schraube mit abgenutztem Gewinde? Er brauchte einen Schluck Wasser. Irgendwo musste es hier doch eine Küche geben. Er fand sie schließlich am Ende eines Flurs und traf dort auf eine Krankenschwester, eine rundliche Fünfzigjährige mit gütigem, offenem Gesicht.
»Sind Sie Commissario Montalbano? Brauchen Sie etwas?«, fragte sie und lächelte ihn freundlich an.
»Ein Glas Wasser bitte.«
Die Frau nahm eine Flasche aus dem Kühlschrank und schenkte ihm ein Glas ein. Während Montalbano trank, füllte sie eine Wärmflasche mit kochendem Wasser und wandte sich dann zum Gehen.
»Einen Moment«, sagte der Commissario. »Wo ist Signor Mistretta?«
»Er schläft. Der Doktor wollte es so. Er hat ganz Recht. Ich geb ihm die Beruhigungsmittel und die Schlafmittel so, wie er es gesagt hat.«
»Und die Signora?«
»Was meinen Sie?«
»Geht es ihr besser? Schlechter? Gibt es was Neues?«
»Das Einzige, was es für die arme Frau Neues geben kann, ist der Tod.«
»Ist sie bei Bewusstsein?«
»Manchmal. Aber ich glaube nicht, dass sie einen
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