Commissario Montalbano 08 - Die Passion des stillen Rächers
steifen Beine fühlten sich jetzt an wie Ricotta, und er stützte sich mit beiden Händen auf die Marmorplatte der Kommode. Die Pflegerin kümmerte sich um die Sterbende und merkte zum Glück nichts.
Dann reagierte der Teil seines Gehirns, in den die blinde Angst noch nicht vorgedrungen war, und verhalf ihm zur richtigen Antwort. Es war ein Signal gewesen, dieses Etwas, das seine Spuren in ihm hinterlassen hatte, als die Kugel sein Fleisch durchschlug, und es wollte ihm mitteilen, dass es ebenfalls hier war, in diesem Zimmer. Es lauerte in einer Ecke und konnte jederzeit und in geeigneter Gestalt zum Vorschein kommen, als Revolverkugel, als Tumor, als Feuer, das sich ins Fleisch einbrennt, als Wasser, in dem man ertrinkt. Er, Montalbano, war nicht gemeint, er war nicht dran. Schon allein daraus konnte er ein wenig Kraft schöpfen. Da sah er auf der Kommode eine Fotografie in einem Silberrahmen. Ein Mann, Signor Mistretta, eine hübsche, gesunde, lachende, lebenslustige Frau, Signora Giulia, und in der Mitte ein vielleicht zehnjähriges Mädchen, Susanna, das beide an den Händen hielt. Der Commissario sah sich dieses glückliche Gesicht noch eine Weile an, um das Gesicht auf dem Kissen, wenn man es überhaupt noch so nennen konnte, zu vergessen. Dann wandte er sich um und ging, er vergaß sogar, der Pflegerin auf Wiedersehen zu sagen.
Er fuhr wie ein Besessener nach Marinella, hielt vor dem Haus, stieg aus, ging aber nicht hinein, sondern rannte an den Strand, zog sich aus, wartete, bis sich seine Haut in der kalten Nachtluft eisig anfühlte, und ging dann langsam ins Wasser. Bei jedem Schritt schnitt ihn die Kälte mit hundert Klingen, aber er hatte das Bedürfnis, sich zu reinigen, Haut, Fleisch, Knochen, sein Inneres, bis in die Tiefe seiner Seele hinein.
Er begann zu schwimmen. Er machte vielleicht zehn Schwimmzüge, doch dann stieß eine dolchbewehrte Hand aus dem dunklen Wasser hervor und stach ihn genau in die Wunde. Zumindest fühlte es sich so an, so unvermittelt und heftig war der Schmerz. Von der Wunde aus strahlte er in den ganzen Körper, unaufhaltsam und lähmend. Sein linker Arm reagierte nicht mehr, Montalbano drehte sich mit Mühe auf den Rücken und machte den toten Mann.
Oder starb er etwa wirklich? Nein, er hatte das dunkle Gefühl, dass ihm kein Tod im Wasser beschieden war.
Allmählich konnte er sich wieder bewegen.
Montalbano kehrte ans Ufer zurück, sammelte seine Kleider auf, schnupperte am Arm und glaubte immer noch den grässlichen Gestank des Sterbezimmers zu riechen, das salzige Meerwasser hatte ihn nicht vertreiben können. Er rannte keuchend die Treppe zur Veranda hinauf und klopfte an die Tür.
»Wer ist da?«, fragte Livia von innen.
»Mach auf, ich erfriere.«
Als Livia die Tür öffnete, stand er nackt, wassertriefend und blau vor Kälte vor ihr. Sie brach in Tränen aus.
»Komm, Livia …«
»Du bist verrückt, Salvo! Du holst dir den Tod! Du stürzt mich ins Unglück! Warum machst du so etwas? Warum nur?«
Verzweifelt folgte sie ihm ins Bad. Der Commissario schmierte sich von oben bis unten mit flüssiger Seife ein, und als er ganz gelb war, stellte er sich unter die Dusche, drehte das Wasser auf und machte sich daran, seine Haut mit Bimsstein zu scheuern. Livia hatte aufgehört zu weinen und glotzte ihn an. Das Wasser lief, bis der Tank auf dem Dach fast leer war. Nach der Dusche fragte Montalbano mit irren Augen:
»Riechst du mal an mir?«
Noch während er fragte, schnupperte er selbst an seinem Arm. Er sah aus wie ein Jagdhund.
»Was ist denn mit dir los?«, fragte Livia erschrocken.
»Riech mal an mir, bitte.«
Livia gehorchte und fuhr mit der Nase über Salvos Oberkörper.
»Was riechst du?«
»Deine Haut.«
»Ganz sicher?«
Schließlich glaubte der Commissario es, zog frische Unterwäsche an und schlüpfte in Hemd und Jeans.
Sie gingen ins Esszimmer. Montalbano setzte sich in seinen Sessel, Livia machte es sich in dem Sessel daneben bequem. Eine Weile schwiegen sie. Dann fragte Livia mit noch immer unsicherer Stimme:
»Ist es vorbei?«
»Ja.«
Wieder schwiegen sie. Dann fragte Livia:
»Hast du Hunger?«
»Der kommt hoffentlich noch.«
Sie schwiegen wieder eine Zeit lang. Dann fragte Livia vorsichtig:
»Erzählst du’s mir?«
»Es fällt mir schwer.«
»Bitte versuch’s.«
Da erzählte er ihr alles. Es dauerte lange, weil es wirklich schwierig war, die richtigen Worte für das zu finden, was er gesehen und empfunden hatte.
Am Ende stellte
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