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Commissario Montalbano 08 - Die Passion des stillen Rächers

Commissario Montalbano 08 - Die Passion des stillen Rächers

Titel: Commissario Montalbano 08 - Die Passion des stillen Rächers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Camilleri
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versteht, auch wenn es so aussieht.«
    »Darf ich zu ihr?«
    »Kommen Sie mit.«
    Montalbano beschlichen Zweifel. Aber er wusste genau, dass er den Zweifel vorschob, um eine schwierige Begegnung hinauszuzögern.
    »Und wenn sie mich fragt, wer ich bin?«
    »Sie machen wohl Scherze. Das wäre ein Wunder.«
    Von der Mitte des Flurs aus führte eine großzügig angelegte Treppe in den oberen Stock. Auch hier gab es einen Flur, diesmal mit sechs Türen.
    »Das ist Signor Mistrettas Schlafzimmer, hier ist das Bad und hier das Zimmer der Signora. Für die Pflege ist es besser, dass die Signora allein ist. Hier gegenüber ist das Zimmer der Tochter, armes Mädchen, ein weiteres Bad und ein Gästezimmer«, erklärte die Schwester.
    »Darf ich mal in Susannas Zimmer schauen?«, fragte er plötzlich.
    »Natürlich.«
    Er drehte am Knauf, steckte den Kopf in die Tür und schaltete das Licht an. Ein schmales Bett, ein Schrank, zwei Stühle, ein kleiner Tisch mit Büchern und ein Bücherregal. Alles sehr ordentlich. Und alles fast anonym, wie ein vorübergehend bewohntes Hotelzimmer. Nichts Persönliches, kein Poster, kein Foto. Die Zelle einer Laienschwester. Er schaltete das Licht aus und schloss die Tür.
    Die Pflegerin öffnete behutsam die Tür gegenüber. Montalbanos Stirn und Hände waren augenblicklich schweißgebadet. Diese unbezwingbare Angst befiel ihn immer, wenn er vor einen Sterbenden trat. Er wusste nicht, was er tun sollte, und musste seinen Beinen strengste Befehle erteilen, damit sie nicht automatisch die Flucht ergriffen und ihn forttrugen. Eine Leiche machte ihm nichts aus, was ihn tief, abgrundtief erschütterte, war der bevorstehende Tod.
    Er riss sich zusammen, trat über die Schwelle und begann seinen persönlichen Abstieg ins Reich der Toten. Der gleiche unerträgliche Modergeruch wie im Zimmer des beinamputierten Mannes der Eierverkäuferin schlug ihm entgegen, nur war hier der Modergeruch zäher, er klebte kaum wahrnehmbar an der Haut und war von einem Gelbbraun, durch das feuerrote Blitze schossen. Die Farbe bewegte sich. Das hatte er noch nie erlebt, sonst entsprachen Farben immer bestimmten Gerüchen, wie auf einem fertigen Bild. Doch jetzt malten die roten Striche eine Art Wirbel.
    Montalbanos Hemd war mittlerweile schweißnass. Das ursprüngliche Bett war durch ein Pflegebett ersetzt worden, dessen helles Weiß in Montalbanos Erinnerung drang und ihn in seine Krankenhauszeit zurückzuholen versuchte.
    Daneben standen Sauerstoffflaschen, Infusionsständer, ein komplizierter Apparat auf einem kleinen Tisch. Ein Rollwagen (ebenfalls weiß, du liebe Güte!) war übersät von Flaschen, Fläschchen, Mull, winzigen Messbechern und sonstigen unterschiedlich großen Gefäßen. Montalbano war knapp zwei Schritte hinter der Tür stehen geblieben, und von dort aus sah das Bett leer aus. Unter der glatt gestrichenen Decke zeichnete sich keine Wölbung eines menschlichen Körpers ab, es fehlten sogar die beiden kleinen Hügel, die die Füße bilden, wenn man auf dem Rücken liegt. Und dieser graue Ball, den jemand auf dem Kissen hatte liegen lassen, war zu klein für einen Kopf – vielleicht war es eine große alte Klistierspritze, deren Farbe verblasst war. Montalbano trat noch zwei Schritte vor und verharrte dann vor Schreck wie gelähmt. Das Ding auf dem Kissen war doch ein menschlicher Kopf, der jedoch nichts Menschliches mehr an sich hatte, ein verhutzelter, haarloser Kopf, ein Haufen tiefer, wie mit dem Meißel gefurchter Falten. Der Mund stand offen, ein schwarzes Loch ohne den geringsten Schimmer eines Zahns. In einer Zeitschrift hatte er mal etwas Ähnliches gesehen, da hatten Kopfjäger ihre Beute präpariert. Während er so dastand, sich nicht rühren konnte und fast nicht glaubte, was seine Augen sahen, kam aus dem Mundloch ein Ton, der aus einer trockenen, verdorrten Kehle drang:
    »Ghanna …«
    »Sie ruft nach ihrer Tochter«, sagte die Pflegerin.
    Montalbano trat mit steifen Beinen zurück, unfähig, die Knie zu beugen. Er musste sich an der Kommode festhalten, um nicht umzukippen.
    Da geschah das Unerwartete. Klick. Die Feder, die sich in seinem Kopf verklemmt hatte, knallte wie ein Schuss, als sie sich löste. Und warum? Drei Uhr siebenundzwanzig und vierzig Sekunden war es jedenfalls nicht, das wusste er sicher. Was dann? Panik ergriff ihn, böse wie ein tollwütiger Hund. Das irre Rot des Geruchs verwandelte sich in einen Strudel, der ihn aufzusaugen drohte. Sein Kinn zitterte, die zuerst

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