Commissario Montalbano 11 - Die Flügel der Sphinx
überließ er sich seinen Gedanken.
Warum war der Mörder bis zur Müllkippe gefahren und hatte die Leiche des Mädchens dort abgeworfen? Ganz bestimmt nicht, um sie unauffindbar zu machen, um sie zu verstecken.
Der Mörder wusste genau, dass die Leiche ein paar Stunden später mit Sicherheit gefunden werden würde. Er hatte lediglich dafür gesorgt, dass die Identifizierung des Mädchens so spät wie möglich erfolgte. Mithin hat er sie nur zu der Müllkippe transportiert, um sie loszuwerden. Doch wenn er sie an dem Ort, wo er sie umgebracht hatte, einen ganzen Tag lang unterbringen konnte, ohne dass jemand die Leiche entdeckt hatte, warum hatte er sie dann nicht noch dagelassen? Vielleicht, weil der Ort nicht sicher war. Warum war er denn nicht sicher?
Wenn doch der Mörder das Mädchen dort umbringen und die Leiche über lange Zeit dort aufbewahren konnte, ohne dass irgendwer irgendetwas bemerkt hatte, wozu hätte er dann einen derart gefährlichen Transport vornehmen sollen? Der Grund konnte doch nur einer sein: die Notwendigkeit. Es war notwendig, die Tote anderswohin zu bringen. Aber warum? Die Antwort gab ihm die Languste.
Oder vielmehr ein auf der hinteren Zunge verbliebener Langustengeschmack. Er hatte Enzos Trattoria geschlossenvorgefunden, weil es Montag war. Und weil es Montag war, bedeutete das, dass das Mädchen am Samstag umgebracht, den ganzen Sonntag über am selben Ort zurückgehalten und danach in der Nacht von Sonntag auf Montag zur Müllkippe geschafft worden war. Oder besser gesagt: in den allerersten Morgenstunden des Montags, als auf dem Platz keine Autos von Huren oder Freiern mehr herumstanden.
Was bedeutete das also?
Das bedeutete, sagte er sich voller Stolz, dass der Ort, an dem das Mädchen ermordet worden war, einer war, der samstagnachmittags und den ganzen Sonntag über geschlossen blieb und erst wieder am Montagmorgen für die Menschen geöffnet wurde.
Die unvermittelte Begeisterung, die er nach dieser Schlussfolgerung verspürt hatte, war nur von kurzer Dauer angesichts des Gedankens, dass es viele Orte gab, die samstagnachmittags und den ganzen Sonntag über geschlossen blieben: Schulen, öffentliche Ämter, private Büros, Arztpraxen, Fabriken, Notariate, Autowerkstätten, Großhandels- und Einzelhandelsgeschäfte, Zahnarztpraxen, Lagerhallen, Läden, Tabak- und Salzhändler … Kurz gesagt, beinahe ganz Vigàta. Ja, wenn er es recht bedachte, war es noch schlimmer. Denn der Mord konnte ja in irgendeinem Privathaus begangen worden sein - von einem Ehemann, der seine Frau und die Kinder übers Wochenende aufs Land geschickt hatte. Der langen Rede kurzer Sinn: eine Stunde vergeblichen Nachdenkens.
Nachdem er wieder ins Kommissariat zurückgekehrt war, fand er auf seinem Schreibtisch den Brief der Spurensicherung vor, mit den Fotos in doppelter Ausfertigung. Arquà war ihm zwar unsympathisch - sein bloßer Anblick genügte, um ihm die Eier rotieren zu lassen -, aber Montalbano musste ehrlicherweise anerkennen, dass er sein Handwerk wirklich verstand.
Den Fotos lag ein Zettel bei. Ohne »Lieber« und ohne Grüße. Doch er selbst hätte es ja genauso gemacht.
Montalbano, das Mädchen ist mit einer großkalibrigen Waffe getötet worden, so viel steht fest. Ob ein Revolver verwendet wurde oder eine Pistole, ist für den Augenblick unerheblich. Der Schuss ist aus einer Entfernung von etwa fünf bis sechs Metern abgefeuert worden und hat daher eine ausgesprochen verheerende Wirkung gehabt. Das Geschoss ist durch den linken Kiefer eingedrungen und knapp oberhalb der rechten Schläfe wieder ausgetreten, mit einer Flugbahn von unten nach oben, wodurch die Gesichtszüge absolut unkenntlich geworden sind. Die Schlussfolgerungen, zu denen Dottor Pasquano gelangen wird, können Dir überaus dienlich sein. Arquà.
Zu Lebzeiten musste das Mädchen eine echte Schönheit gewesen sein - um das festzustellen, brauchte man kein Kenner wie Mimi Augello zu sein.
Über den Daumen gepeilt war sie ungefähr einen Meter achtzig groß. Blond, mit glatten langen Haaren, die sie, als sie ermordet wurde, vermutlich zu einem Knoten auf dem Kopf zusammengesteckt hatte. Aus dem Knoten hatten sich einzelne Haarsträhnen gelöst und bedeckten das Gesicht, das nicht mehr existierte. Sie hatte endlos lange Beine, wie eine Ballerina oder eine Athletin. Montalbano warf noch einen Blick auf die Gesamtaufnahmen, dann hielt er inne und betrachtete die Fotos, die das Tattoo zeigten. Eines davon war eine brauchbare
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