Commissario Montalbano 12 - Die Spur des Fuchses
Schubsend, stoßend, stolpernd, rempelnd ergoss sich eine Woge lärmender Männer und Frauen durch die drei Glastüren auf die Allee. Im Nu war von Ingrid nichts mehr zu sehen, sie war von der Menge erfasst und mitgerissen worden, ohne dass sie dagegen hätte ankämpfen können. Sie hatte sich noch nach Montalbano umgedreht und den Mund geöffnet, um irgendetwas zu sagen, doch ihre Worte waren nicht mehr zu verstehen. Das Ganze erinnerte an die Schlussszene eines Katastrophenfilms. Montalbano fühlte sich benommen und vermutete, dass in der Villa ein Feuer ausgebrochen war, doch die fröhlichen Gesichter all dieser Menschen, die wild durcheinanderliefen, belehrten ihn eines Besseren. Er trat zur Seite, um nicht von der Menge erfasst zu werden, und wartete, dass die Flut abebbte. Der Gong hatte verkündet, dass das Abendessen bereit sei. Aber wie war es nur möglich, dass diese adeligen Herrschaften, diese Unternehmer und Geschäftsleute immer hungrig waren? Da hatten sie schon zwei Tische voller Antipasti leergeputzt, und immer noch wirkte es so, als hätten sie seit Wochen nichts mehr gegessen.
Als die Woge zu einem kleinen Rinnsal von drei, vier Nachzüglern abgeebbt war, die wie Hundertmetersprinter rannten, wagte Montalbano es, wieder auf die Allee hinauszugehen. Jetzt musste er nur noch Ingrid wiederfinden! Und wenn er nun statt zum Essen einfach zu dem Zuchthäusler ginge und sich von ihm die Wagenschlüssel geben ließe, um sich ins Auto zu setzen und dort für ein, zwei Stunden ein Nickerchen zu machen? Die Aussicht erschien ihm geradezu verlockend.
»Commissario Montalbano!«, hörte er eine weibliche Stimme nach ihm rufen.
Er drehte sich in Richtung des Salons um, aus dem just in diesem Augenblick Rachele Esterman getreten war. An ihrer Seite stand ein Mann um die fünfzig, der dunkelgrau gekleidet und hochgewachsen war wie Rachele, mit schütterem Haar und dem perfekten Gesicht für einen Spion. Unter einem Spionsgesicht verstand der Commissario ein Allerweltsgesicht, so eins, an das man sich am nächsten Tag nicht mehr erinnerte, selbst wenn man es einen ganzen Tag vor Augen hatte. James-Bond-Gesichter sind keine Spionsgesichter, denn wer sie einmal gesehen hat, vergisst sie nicht mehr. Das kann vor allem deshalb gefährlich sein, weil ja auch ihre Feinde sie jederzeit wiedererkennen würden. »Guido Costa. Commissario Montalbano.« Besagten Commissario Montalbano kostete es ungeheure Mühe, den Blick von Rachele loszureißen und stattdessen Costa anzuschauen. Kaum dass er sie gesehen hatte, war er wie verzaubert. Sie war in eine Art schwarzen Kaftan gehüllt, der von raffiniert verarbeiteten Trägern gehalten wurde und ihr bis an die Knie reichte. Ihre Beine waren noch länger und schöner als die von Ingrid. Die offenen Haare fielen ihr locker über die Schultern, ein Reif aus Edelsteinen umschloss ihren Hals. In der Hand hielt sie eine Mantilla.
»Wollen wir gehen?«, fragte Guido Costa. Er hatte die Stimme eines Synchronsprechers für Pornofilme, eine jener öligen, tiefen Stimmen, die in diesen Filmen eingesetzt werden, um den Frauen Schweinereien ins Ohr zu flüstern. Er mochte seine geheimen Vorzüge haben, dieser Allerweltsguido.
»Wer weiß, ob wir überhaupt noch einen Platz finden«, sagte Montalbano.
»Keine Sorge«, sagte Rachele, »ich habe einen Tisch für vier Personen reservieren lassen. Aber Ingrid zu finden dürfte ein schwieriges Unterfangen sein.«
Es war kein schwieriges Unterfangen. Ingrid stand schon wartend an dem reservierten Tisch. »Ich habe Giogiò getroffen!«, sagte Ingrid heiter. »Ah, Giogiò!«, sagte Rachele mit einem Lächeln. Montalbano bemerkte einen komplizenhaften Blick zwischen den beiden Frauen und ihm war sofort alles klar. Giogiò musste ein Verflossener von Ingrid sein. Aber wer sagte denn, dass eine aufgewärmte Suppe nicht gut ist? Es war doch möglich, dass sie sich in diesem speziellen Fall einfach geirrt hatte. Er befürchtete, Ingrid könnte auf die Idee kommen, die Nacht mit dem wiedergefundenen Giogiò zu verbringen, während er bis zum nächsten Morgen im Auto schlafen müsste.
»Macht es dir was aus, wenn ich mich zu Giogiò an den Tisch setze?«, fragte Ingrid den Commissario. »Überhaupt nicht.«
»Du bist ein Engel.«
Sie bückte sich und küsste ihn auf die Stirn. »Allerdings…«
»Keine Sorge. Nach dem Abendessen komme ich dich abholen und dann fahren wir zusammen nach Vigata.« Der Oberkellner, der diese Worte mit angehört hatte,
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