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Commissario Tron 5: Requiem am Rialto

Commissario Tron 5: Requiem am Rialto

Titel: Commissario Tron 5: Requiem am Rialto Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Remin
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das Salon-Orchester
spielte. Ihr Dekollete war äußerst bemerkenswert, aber
er hatte den Kopf gedreht und war weitergegangen. Er machte sich
nichts aus molligen Brünetten. Er wusste genau, was er wollte.
Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Frau auftauchte, auf die er
wartete.
    Dass er gestern Nacht
gezwungen gewesen war zu improvisieren, war bedauerlich, aber es
hatte sich nicht vermeiden lassen. Im Nachhinein konnte er
allerdings mit sich zufrieden sein. Er hatte in der Hitze des
Gefechts die Übersicht behalten. Den Schnitt durch die
Bauchdecke, obwohl lange nicht mehr vorgenommen, hatte er fast
routinemäßig ausgeführt. Dann hatte er ihr mit ein
paar weiteren virtuosen Schnitten das Leben entnommen und die Frau
noch rechtzeitig vor der Ankunft des Zuges in Venedig entsorgt. Ob
sie die Leiche bereits gefunden hatten? Ihre unvollständige Leiche? Angeschwemmt
an den Gestaden der Fondamenta Nuove? Hier ganz in der Nähe?
Jedenfalls war es auszuschließen, dass man ihn mit dem
Verschwinden der Frau in Verbindung brachte. Falls man
überhaupt darauf kam, dass die Signorina die Eisenbahn benutzt
hatte.
    Ein wenig
problematisch war das Blut im Abteil gewesen. Als das Fest vorbei
war, hatte er in einer regelrechten Pfütze gestanden. Es gab
sogar ein paar Spritzer auf den Spiegeln über den Sitzen, und
auch die Polster sahen saumäßig aus. Ob der Schaffner
angesichts der Schweinerei die Polizei gerufen und all die
Scherereien in Kauf genommen hatte, die damit verbunden waren?
Unwahrscheinlich. Vermutlich hatte er sich darauf beschränkt,
eine gründliche Reinigung anzuordnen und die Angelegenheit
dann auf sich beruhen zu lassen. Und damit stellte sich die
spannende Frage, wie die Reinigungskräfte auf das organische
Objekt auf den Polstern reagiert hatten.
    Hatten sie es
entsorgt? Oder vielleicht gar verspeist? Zubereitet alla
veneziana ?
Mit ein wenig Reis und dem obligatorischen Salbeiblatt? Die Leute,
dachte er, die für die Reinigung der Coupes zuständig
waren, waren arm. Sie würden zugreifen, wenn sie auf ein
schmackhaftes Stück Fleisch stießen.
    Nein, er hatte nicht
damit gerechnet, dass seine Eisenbahnfahrt nach Venedig diese
überraschende Wendung nehmen würde. Sie war ihm in Verona
auf dem Bahnsteig aufgefallen: eine schlanke blonde Signorina, die
in das Coupe hinter ihm gestiegen war. Sie hatten sich kurz
angesehen, und dann hatte ihn der Blick ihrer leicht schräg
stehenden Augen nicht mehr losgelassen. Als der Zug sich ruckelnd
in Bewegung setzte, hatte er sich gefragt, welche Farbe sie haben
mochten. Hinter Vicenza war ihm klargeworden, dass es um mehr ging,
als die Farbe ihrer Augen festzustellen. Und dass es zu spät
war, dagegen anzukämpfen. Also hatte er seinen Handkoffer
geöffnet, das Rasiermesser entnommen und war in Fusina in ihr
Abteil gestiegen. Wie sich herausstellte, hatte sie
tatsächlich grüne Augen — hellgrün wie
Frühlingslaub.
    Natürlich wusste
er nur zu gut, dass in seinem Inneren eine Bestie lauerte, ein
wildes Tier, das nur auf eine Gelegenheit wartete, seine scharfen
Zähne in weiches Fleisch zu schlagen. Dieses Tier in seinem
Inneren schlief viel, und es gab ganze Monate, in denen er es
vollständig vergaß. Manchmal dachte er, dass es
vielleicht in eine Art Winterschlaf versunken war oder sich gar
für immer zur Ruhe gelegt haben mochte. Bis es wieder erwachte
und mit kleinen Rattenzähnchen an seinem Verstand zu nagen
begann. Der merkwürdigerweise auch dann, wenn die Bestie
ausgebrochen war und sich austobte, erstaunlich gut funktionierte.
Bisher hatte sein Verstand immer dafür gesorgt, dass er nicht
erwischt wurde. Das, was er hin und wieder tat, konnte man nicht
unbedingt als vernünftig bezeichnen. Aber wenn er es denn tat,
geschah es unter voller Kontrolle seines Verstandes.
    Vor einigen Monaten
war ihm das Buch eines Schweizer Professors über die alten
Griechen in die Hände gefallen. Erst hatte es ihn gelangweilt,
aber dann hatte er es mit wachsender Faszination verschlungen. Der
Professor behauptete tatsächlich, dass die alten Griechen uns
an der Nase herumgeführt hätten. Nichts da mit stiller
Einfalt und edler Größe! Alles getürkt! Denn hinter
ihren geleckten Tempelfassaden, so der Professor aus Basel, hatten
sie in Wahrheit blutige Veitstänze aufgeführt, sich dem
Rausch und der Wollust hingegeben. Das hatte ihm eingeleuchtet. Im
Grunde, hatte er sich nach der Lektüre des Buches gesagt, sind
wir alle Griechen. Hinter unserer Fassade, unseren

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