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Commissario Tron 5: Requiem am Rialto

Commissario Tron 5: Requiem am Rialto

Titel: Commissario Tron 5: Requiem am Rialto Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Remin
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Tempelfronten
aus weißem Marmor, da morden und kopulieren wir, was das Zeug
hält. Der eine mehr, der andere weniger.
    Er etwas mehr. Denn er
war zweifellos verrückt.
    Und die Stadt, in die
er gekommen war, hatte ihn noch ein Stück verrückter
gemacht. Lag es an dem Dunst karnevalistischer Enthemmung, der ihm
bereits am Bahnhof entgegengeschlagen war? An den grell
geschminkten Signorinas, die man an jeder Ecke traf? Oder war es
die Begegnung im Zug gewesen, die das wilde Tier wieder von der
Leine gelassen hatte? Merkwürdig, dachte er. Wie war es
möglich, dass er die Bestie in seinem Inneren hasste und
zugleich liebte? Dass er ihren Ausbruch befürchtete und
zugleich als Befreiung empfand? Dass er bereit — nein,
geradezu wild darauf war, ihr das zu
verschaffen, wonach sie verlangte?
    Jedenfalls hatte er
sich bereits am ersten Tag seines Aufenthalts in Venedig erneut auf
die Pirsch gemacht. Und für einen Jäger auf der Suche
nach Beute war die Locanda Zanetto ein perfekter Waidgrund. Ein
ideales Revier, das ganze Rudel leckerer Tierchen durchstreiften,
die nur darauf warteten, erlegt zu werden. Wäre er nicht so
wählerisch gewesen, hätte er schon lange zugeschlagen.
Aber das wilde Tier in ihm hatte sich noch nie mit dem
zufriedengegeben, was ihm zufällig über den Weg lief. Die
Figur der Frau, ihre Haarfarbe, ihre Art, sich zu bewegen —
alles das musste stimmen. Im Idealfall auch die Farbe ihrer Augen.
Grün und unschuldig wie Frühlingslaub. Am besten
kombiniert mit einem melancholischen Augenaufschlag. Ob das wilde
Tier in ihm eine romantische Ader hatte? Manchmal kam es ihm so
vor. Er jedenfalls hatte keine romantische Ader.
    Er drehte den Kopf, um
eine Gruppe von Signorinas zu beobachten, die sich an ihm
vorbeigedrängt hatten und jetzt ein paar Schritte von ihm
entfernt stehenblieben, um das männliche Publikum zu taxieren.
Unwillkürlich musste er lächeln. Diese Damen waren auch
auf der Jagd. Als Beute kamen sie allerdings nicht in Frage. Die
eine schien eine schwarze Perücke zu tragen, die beiden
anderen hatten lockige, mausbraune Haare. Alle drei waren sie klein
und rundlich. Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis sein Urteil
feststand: ungeeignet. Keine fette Beute. Da regte sich nichts in
ihm.
    *
    Zwei Stunden
später fand er sie. Er hätte sie unmöglich
übersehen können, denn das wilde Tier in seinem Inneren
war bei ihrem Anblick sofort in ein gieriges Wolfsgeheul
ausgebrochen. Einen Moment lang befürchtete er, dass etwas von
diesem Geheul durch seine Schädeldecke nach außen
gedrungen sein könnte, und sah sich erschrocken um. Hatte er
womöglich selbst laut aufgeheult?
    Als er sie sah, stand
sie gerade neben dem Ausgang, der zum Steg führte, an dem die
Gondeln an- und ablegten. Sie war blond und hochgewachsen, eine der
legendären venezianischen Blondinen, die ihre Haare im Sommer
auf den Altanen mit Hilfe von Salzwasser ausbleichen ließen.
Sie war kein frisches Zitronentörtchen, sondern eine Frau in
den Dreißigern, aber das störte ihn nicht. Er hatte
nicht die Absicht, sie zu heiraten. Das wilde Tier in ihm
würde ohnehin dafür sorgen, dass ihre Bekanntschaft nicht
sehr lange
dauerte.        
    Die Paare wiegten sich
jetzt zu den Klängen eines langsamen Walzers, und einen Moment
lang erwog er, sie aufzufordern. Aber er war ein schlechter
Tänzer und fürchtete, sich zu blamieren. Außerdem
schwitzte er. Wieder überkam ihn der Drang, die Maske
abzunehmen, um ein wenig Luft an seine obere Gesichtshälfte zu
lassen. Aber es wäre ein Fehler, sich zu zeigen, bevor sie das
Hotelzimmer betreten hatten. Falls es einen Portier gab, würde
er Verständnis für seine Maskierung haben. Niemand, der
mit einer Schlampe zusammen ein Stundenhotel betritt, legt Wert
darauf, dass man sich an ihn erinnert. 
    Sein Gesicht,
Commissario? Das kann ich Ihnen nicht sagen. Er trug eine
Halbmaske, und an seiner unteren Gesichtshälfte war nichts,
was mir aufgefallen wäre. Nein — ein markantes Kinn
hatte er nicht. Er hatte ein ganz normales Kinn. Er war
mittelgroß, weder dick noch dünn. Und geredet hat er
auch nicht. Das Reden hat er der Frau überlassen. Fragen Sie
mich also nicht, ob es ein Einheimischer oder ein Fremder war. Ich
weiß es nicht.
    Als der Walzer zu Ende
war und sich die Paare voneinander lösten, trat er einen
Schritt auf sie zu. Sie bemerkte ihn, sah ihn an, und ihr Blick
blieb einen Moment lang an seiner Kopfbedeckung
hängen.
    Es hätte alles
wunderbar funktioniert, wäre

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