Commissario Tron 5: Requiem am Rialto
mittelgroß, schwarzer Gehrock,
Zylinderhut, schwarze Halbmaske, höchstens dreißig. Er
hatte ebenfalls einen leichten ausländischen
Akzent.»
«Ist er hier
also aufgetaucht, bevor der erste cavaliere das Hotel wieder
verlassen hat?», fragte Tron. Signor Bon nickte. «Haben
Sie ihm gesagt, dass die Signorina noch Besuch
hat?»
Wieder zogen sich
Signor Bons Augenbrauen in die Höhe. «Das gehört
nicht zu meinen Aufgaben. Vielleicht hatte ja alles seine
Richtigkeit.»
«Was ist danach
passiert?»
«Fünf
Minuten später kam der erste cavaliere die Treppen herab und
hat das Haus verlassen.»
«Ist Ihnen
irgendetwas an dem Mann aufgefallen?»
«Nur, dass er es
eilig hatte. Aber das geht anschließend allen Herren
so.»
«Und der
zweite cavaliere?»
«Kam eine
Viertelstunde später die Treppe herab.»
«Also
ungewöhnlich schnell. Hat er etwas zu Ihnen
gesagt?»
Signor Bon
schüttelte den Kopf. «Nein. Er ist genauso schnell
verschwunden wie der erste cavaliere.»
*
Als Tron und Bossi vor
die pensione traten, hatte es
wieder angefangen zu regnen, und die Giudecca-Insel auf der anderen
Seite des Wassers war hinter einem Schleier aus Dunst verschwunden.
Aber der böige Wind, der sie auf der Hinfahrt belästigt
hatte, war eingeschlafen, und Bossi konnte in der Gondel seinen
großen Hotelschirm aufspannen.
«Er hat
vermutlich das Dreifache verlangt», sagte Bossi. Er streckte
den rechten Arm weit nach oben, damit Trons schwarzer Zylinderhut
unter dem Schirm Platz hatte.
Einen Moment lang war
Tron irritiert. «Wofür?»
«Für das
Zimmer. Signor Bon darf an niemanden vermieten, der sich nicht
ausweisen kann. Das ist ein klarer Verstoß gegen das
Meldegesetz.»
«Ich weiß.
Und ich hätte ihn darauf hingewiesen, wenn ich das Gefühl
gehabt hätte, dass er uns etwas verschweigt.»
«Wenn es
fünf Minuten gedauert hat», sagte Bossi, «bis der
erste Besucher die Lobby durchquert hat, nachdem der zweite
Besucher nach oben gegangen ist, wäre es denkbar, dass die
beiden sich begegnet sind und dabei ein paar Worte gewechselt
haben. Dann wäre einer der beiden Männer ein wichtiger
Zeuge. Es dürfte nur schwierig sein, diesen Mann zu ermitteln.
Wir können schlecht in jedem Hotel der Stadt einen Anschlag
machen und darum bitten, sich als Zeuge in einem Mordfall zu
melden.»
«Sind wir uns
darüber einig, dass es sich mit großer
Wahrscheinlichkeit um den Täter handelt, der Signorina
Calatafimi und auch die unbekannte Frau an den Zattere auf dem
Gewissen hat?»
Bossi nickte.
«Es sieht ganz danach aus.»
«Wie lange ist
der zweite Besucher auf dem Zimmer gewesen?»
Der Ispettore
überlegte kurz. «Höchstens eine Viertelstunde, wenn
es stimmt, was Signor Bon gesagt hat.»
«Dass der
Mörder nur eine Viertelstunde für sein grausiges Programm
gebraucht hat, ist äußerst unwahrscheinlich»,
sagte Tron. «Ich denke, dass es der erste Besucher war, der Signorina
Lucrezia getötet hat.»
«Dann hätte
also der zweite Besucher die Leiche entdeckt und sich einfach aus
dem Staub gemacht?»
«Nachdem er
offenbar darüber nachgedacht hat, wie er sich verhalten
sollte», sagte Tron. «Und es dann für klüger
gehalten hat, wortlos zu verschwinden. Vielleicht war es ein
Ehegatte auf Abwegen, der sich nicht kompromittieren
wollte.»
Bossi seufzte.
«Und was machen wir jetzt?»
«Grassi ist aus
dem Spiel», sagte Tron. «Stattdessen haben wir einen
Verrückten, der durch Venedig streift und junge Frauen
ausweidet. Und womöglich bereits auf der Suche nach einem
neuen Opfer ist.»
Bossis Augen weiteten
sich entsetzt.
«Gibt es das?
Jemand, der einfach mordet? Auf bestialische Art und Weise? Ohne
einen nachvollziehbaren Grund?» Jetzt lag eine gewisse
Faszination in Bossis Gesichtsausdruck.
Tron hob die
Schultern. «Denken Sie an die Geschichten über
Werwölfe und Vampire. So hat man Verbrechen erklärt, die
keinen nachvollziehbaren Grund hatten und dermaßen
abscheulich waren, dass man sich nicht vorstellen konnte, ein
Mensch könnte sie begangen haben.»
«Und wie fassen
wir diesen Mann? Wir wissen nur, dass er mittelgroß ist,
einen ausländischen Akzent hat und eine schwarze Halbmaske
trägt.»
Tron schüttelte
den Kopf. «Ein bisschen mehr können wir schon sagen. Wir
wissen, dass der Täter etwas von Anatomie versteht und dass er
kein Gelegenheitsmörder ist. Jedenfalls sind der Mord auf der
Gondel und der Mord im Hotel eiskalt geplant
worden.»
«Militärisch geplant?»
«Sie denken an
den
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